A–Z Fußgängerzone

Geile Meile Kassels Fußgängerzone wird 60. Fußgängerzonen früher: Orte für Flaneure, heute: uniforme Shopping-Malls. Nur in Kopenhagen entsteht eine Zone der Zukunft. Unser Lexikon
Ausgabe 45/2013

A

Auto Der größte Feind der Fußgänger ist der Autofahrer. Die meisten Unfälle, bei denen Fußgänger zu Schaden kommen, sind Kollisionen mit einem Pkw. Und in drei von vier dieser Fälle sind die Menschen hinter dem Steuer schuld. Was liegt also näher, als eine Schutzzone für Fußgänger einzurichten und die tödlichen Vierräder auszuschließen? Manche Kleinstädte gehen einen anderen Weg und setzen auf die Straße für alle, sogenannte shared spaces: Hier darf sich jeder bewegen, es gibt keine Verkehrsschilder, keine Bordsteine, keine Ampeln. Der Trick: Autofahrer fühlen sich verunsichert und nehmen daher mehr Rücksicht. Wer es lieber klassisch hat, mag vielleicht die Tempo-30-Zone. Sie verringert nachweislich die Unfallzahlen. Mittlerweile gibt es eine europäische Bürgerinitiative, die sich dafür einsetzt, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung in allen EU-Innenstädten zum Standard wird. Etwa 40.000 Menschen haben schon unterschrieben. Die Vorteile: weniger Unfälle, weniger Abgase, weniger Lärm. Felix Werdermann

F

Flaneur Uns wird eingetrichtert, wir müssten dauernd nur kaufen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Manche glauben, Fußgängerzonen seien nur zum unmittelbaren Konsum erfunden worden. Selbst wenn das so wäre: Niemand zwingt uns, mit vollen Tüten nach Hause zu gehen. Der Amerikaner nennt es „Window Shopping“, früher sprach man vom Flanieren, dem völlig in Vergessenheit geratenen Ritual des fröhlichen Umherschweifens. Vor allem in südlichen Ländern ein Alltagsritual: Abends oder am Wochenende schmeißen sich alle in Schale, Kleinkinder werden wie Geschenke aufgerüscht, man zeigt, was man hat. Hier ein Plausch, dort ein Gläschen, natürlich kommt es auch zu Impulskäufen, dank der ausgedehnten Öffnungszeiten. Dieser soziale Aspekt ist in unseren Fußgängerzonen abhanden gekommen. Gestresst erledigen wir unsere Einkäufe. Flanieren können die Deutschen komischerweise nur im Urlaub. Schade. Sophia Hoffmann

G

Gesichtslos Plastic is so last year: Das Graffito in der Genter Einkaufsmeile ist das Einzige, was die belgische Konsummeile von jenen in Deutschland abhebt. Auch diese gleichen sich ja alle. „Sale“-Schilder in Magenta und Pink, etwas Bekloppten-Englisch und dazu dieselben Logos derselben Fast-Food-, Preiswertbekleidungs- und Elektronik-Ketten: Schöne neue Warenwelt. Zwischen Beton und Spiegelglas lugt manchmal noch ein denkmalgeschützter Zipfel hervor, das war’s dann aber auch an Individualität. Die Menschen sollen sich schließlich überall zurechtfinden, weshalb die Fußgängerzonen jene Entwicklung nun auch mitmachen, die ihre konsumentenlogischen Nachfolger in Gang gesetzt haben. Die Shopping-Malls sind nichts anderes als weitergedachte Fußgängerzonen, die dort angelegt worden sind, wo man nie flanieren wollte. Den Charakter einer Stadt muss man also abseits der Hauptverkehrsströme entdecken – in Gent kann man so zum Beispiel die Cocktailbar White Cat finden. Tobias Prüwer

I

Istiklal Caddesi „Istiklal“ heißt Unabhängigkeit, „Caddesi“ Straße. 1923 gab Mustafa Kemal (später Atatürk) dem 1,5 Kilometer langen Boulevard zwischen Taksim-Platz und Goldenem Horn diesen Namen. Heute ist die Istiklal eher die Straße der Abhängigkeiten. Bis tief in die Nacht shoppen hier Millionen, das Angebot reicht von Lacoste bis zum Lammdarmspieß. Seit den Gezi-Protesten stehen in allen Seitenstraßen ab dem frühen Abend Polizisten, die mit ihren Smartphones und ihren Waffen spielen. Ab und zu können sie ein paar Menschen verhaften oder Gas verschießen, wenn der Taksim-Platz wieder mal gesperrt worden ist. Wenn dann weitergeshoppt wird, weiß man nicht recht, was bedrohlicher ist: die Waffen oder die Langeweile dieser fast ausnahmslos männlichen jungen Polizisten. Christine Käppeler

J

Jesuskrieger Die Spitalerstraße, eine der großen Einkaufsmeilen Hamburgs, ist sonnabends die Hölle. Nicht nur wegen der vielen Menschen. Dann baut sich auch ein Mann im Strom der Shoppenden auf. Mit einem riesigen Kreuz in der Hand verkündet er Gottes Wort. Brüllend. Über Stunden. Wenn, wie meist, die Passanten achtlos an ihm vorbeilaufen, droht der Wutprediger – ein ehemaliger Kickboxer, der vor Jahren von seiner Freundin verlassen wurde – auch schon mal mit dem Strafbefehl von oben. Dann richtet er den Blick zum Himmel und schreit: „Herr, offenbare dich ihnen! Ohne dich sind sie verloren!“ Fußgängerzonen sind Bühnen für religiöse Eiferer, Evangelisten und Spiritualisten. Hier finden sie potenzielle Anhänger und ertappen sie bei der Jagd nach materiellen Gütern. Mark Stöhr

K

Kassel Die Treppenstraße in Kassel wird in diesen Tagen 60 Jahre alt. Sie wurde am 9. November 1953 eingeweiht – und ist damit die älteste Fußgängerzone Deutschlands. Sie verbindet mit 104 Stufen den kaum noch angefahrenen Kasseler Hauptbahnhof mit der Haupteinkaufsstraße, wobei die Treppen so niedrig sind, dass man ins Stolpern gerät, wenn man jede Treppenstufe nimmt, und springen muss, wenn man nur jede zweite betritt. Die Treppenstraße fügt sich gut in die im Zweiten Weltkrieg zerbombte Stadt ein: Beim Wiederaufbau konnten sich die Architekten austoben und gestalteten Kassel nach den damaligen städtebaulich modernen Trends, die heute hässlich und unpraktisch sind. Wer in Kassel aber den Bergpark Wilhelmshöhe besucht, findet auch Treppen – und die haben die richtige Höhe. Michael Schulze von Glaßer

R

Rekord Wer hat denn nun die längste Fußgängerzone der Welt? Superlative sind schnell in der Welt, man muss sie nur laut genug propagieren. Das gilt vor allem beim Selbstmarketing von Urlaubsorten. In Jesolo, einem Städtchen an der italienischen Adria, soll sich demnach die Weltrekord-Fußgängerzone mit einer Länge von neun Kilometern erstrecken. Aber gibt es nicht irgendwo auf der Welt eine Mall, die noch länger ist? Bestimmt, sie hat es nur noch nicht bis zu Wikipedia geschafft. Verbrieft ist, dass die Strøget in Kopenhagen bei ihrer Eröffnung 1962 mit knapp über einem Kilometer die längste Fußgängerzone der Welt war. Und ganz sicher stellte das Ruhrgebiet im Kulturhauptstadtjahr 2010 einen Weltrekord auf, als die A 40 von Duisburg bis Dortmund für den Verkehr gesperrt wurde. 60 Kilometer. Die längste Fußgängerzone der Welt. Für einen Tag. MS

S

Sperrzone Seit dem 19. Jahrhundert ist die Hamburger Herbertstraße den Prostituierten und ihren Kunden vorbehalten. Auch zur NS-Zeit, als Striptease und Prostitution verboten waren, blieb sie so bestehen wie sie war, verborgen hinter den Sichtblenden, die bis heute an beiden Enden der Straße stehen. Seit den siebziger Jahren verbieten Schilder an den Eingängen Jugendlichen unter 18 Jahren und Frauen den Durchgang – auf Bitten der Prostituierten. Juristisch gilt dieses Verbot nicht. Es ist nicht die einzige Sperrzone: Im April dieses Jahres wurde die Leonhardstraße im Stuttgarter Rotlichtviertel ebenfalls zur Fußgängerzone erklärt. Probeweise für ein Jahr. Damit will man den Straßenstrich zurückdrängen. Anwohner hatten sich durch den Lärm der vorbeifahrenden Freier und Schaulustige gestört gefühlt. Benjamin Knödler

Straßenmusiker Georges Brassens und Edith Piaf lernten ihr Handwerk auf der Straße und verzückten Passanten. Heute stehen die modernen Bänkelsänger in Fußgängerzonen und Einkaufspassagen, in Unterführungen, auf Bahnhöfen und entern die U-Bahnen – wenn sie dürfen. Mitunter nerven sie mit ihren immer gleichen Weisen, dem „El Condor Pasa“, dem „Blowin in the wind“, mit „Kalinka“, mit „Guantanamera“ und „Yesterday“. Die jüngste Variante: rumänische Kapellen, Sinti und Roma. Straßenmusik ist eine Ware geworden, ein umkämpfter Markt – und ein professioneller: In Paris gibt es ein „Casting“, wer durchfällt, darf nicht spielen. München reglementiert, wer auftreten darf und womit: Klavier ja, E-Gitarre oder Jazz-Saxofon nein. Pro Tag gibt es nur zehn Lizenzen. In den meisten Städten muss man für Stellplätze bezahlen. Straßenmusik galt mal als Bereicherung für die Stadt, Fußgängerzonen wurden durch sie lebendig. Heute fürchten Musiker Geldstrafen. Maxi Leinkauf

T

Treffpunkt Bevor ich nach Berlin kam, warnten mich Bekannte: Berlin sei eine extrem zentrifugale Stadt, es gäbe keine Mitte, keinen zentralen Treffpunkt, man lebe dort im Kiez, jeder habe ein eigenes Zentrum. Kiez klang in meinen im Süden geeichten Ohren komisch, irgendwie nach Reeperbahn. Der Kiez, in dem ich dann zuerst landete, hatte auch keine Mitte, nur eine gefährliche Autostraße vor meinem Fenster. Dort konnte ich also nicht machen, was ich von meinen mittelgroßen Städten gewohnt war: Die Konsumrennbahn, vornehmer: Fußgängerzone, hoch- und runterspazieren und dabei ganz sicher sein, irgendjemanden zu treffen. Fiel einem zu Hause die Decke auf den Kopf, zog man bei uns los, ein, zwei oder drei Kilometer. Es ging nicht ums shoppen, sondern um das kurze Hi, wie geht’s, hast du das schon gehört, kommst du morgen auch auf die Fete? Hatte man es eilig, konnte das nerven, insgesamt war es aber ein beruhigendes Gefühl. Auf Berlins Konsumrennbahnen treffe ich nie jemanden. Ulrike Baureithel

Z

Zeichen Mutter mit Kind: Es ist das in Blau-Weiß gegossene Betreuungsgeld, dieses Zeichen für die Fußgängerzone. Warum in aller Welt stellt eigentlich immer noch eine Frau im Rock mit Kleinkind an der Hand das Signet für die verkehrsberuhigte Zone? Ist das nicht mal überlebt? Schaut man sich die Realpolitik an, muss man sagen: Gerade nicht. Die Farbgebung ist gewiss ein Hinweis aufs Königreich Bayern, das sich in den Koalitions-Verhandlungen gerade als Schwergewicht übt. Statt in den Kindergarten gehen Mutter und Kind eben lieber in der Einkaufsmeile bummeln und kurbeln mit dem Haushaltsgeldzuschuss aka Herdprämie die Konjunktur an. Der Papa – wenn er nicht gerade arbeiten ist – löst derweil die Pkw-Maut-Vignette ein: Weil er besser gestellt ist als ausländische Autofahrer, bekommt er einen Chai Latte gratis. TP

Zukunft Die durchschnittliche Geschwindigkeit eines Menschen beträgt fünf Kilometer pro Stunde. Doch die meisten Stadtplaner konzipieren ihre Städte für die maschinelle Mobilität, für Autos und Bahnen. Für eine Geschwindigkeit von 60 km/h oder sogar 100 km/h. Der dänische Architekt Jan Gehl arbeitet seit Jahren an einer urbanen Entschleunigung. Er will mit seinen Konzepten den öffentlichen Raum für die Stadtbewohner zurückerobern. Große Zonen mit wenig oder ganz ohne Verkehr dominieren das Stadtbild von Kopenhagen, das eine Art Blaupause ist für Gehls Visionen. Auch in anderen Metropolen wie New York oder Christchurch hat der Däne mit der Transformation der Stadt von einer Arbeits-, Wohn- und Kommerzmaschine zu einem Ort des Verweilens bereits begonnen. Sein Credo: Ein besseres urbanes Leben ist möglich. MS

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