A
Ausreißer Manche bleiben im Nest, weil es so schön warm ist. Andere, weil sie Angst vor der Welt da draußen haben. Und wieder andere hauen einfach ab. Ausreißergeschichten, Abenteuergeschichten, Huckleberry-Finn-Geschichten handeln davon. Das Zuhause ist zu eng geworden oder zu gewalttätig, aber die Welt dahinter ein freies Feld. Holden Caulfield geht in Der Fänger im Roggen nach der Schule nicht heim, sondern stromert drei Tage lange durch Manhattan. Zwei Teenager tuckern in Tschick mit einem hellblauen Lada Niva durch Ostdeutschland und lassen sich in einer Braunkohlebrache von der Ostfront erzählen. Und zwei Freunde, die erst Feinde waren, bauen sich in dem Film Nordsee ist Mordsee ein Floß und fahren damit davon. Weg vom Nest, so weit wie möglich, wie einst Huckleberry Finn. Mark Stöhr
B
Bumerang Man zieht mit 18 aus, macht eine Ausbildung oder studiert, sucht einen Job, findet keinen – und landet wieder dort, wo die Reise in die Eigenständigkeit einst begann: unter dem Dach der Eltern. Die „Generation Bumerang“ ist ein Phänomen, das erstmals 2001 in den USA nach dem Platzen der Dotcom-Blase gesichtet wurde. Damals bekam es auch seinen Namen. Millionen Amerikaner zwischen 25 und 34 Jahren zogen wieder zurück in ihr Kinderzimmer, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten konnten. Nach der Finanzkrise 2007 standen die Mittzwanziger bis Mittdreißiger erneut vor dem Nichts und vor der Haustür von Mama und Papa. Nur als Nestrückkehrer – so ist es bis heute – können sie ihren gewohnten Mittelklasse-Standard halten. Sie zahlen daheim keine marktüblichen Mieten, meistens gar keine, und können es sich somit leisten, ein unbezahltes Praktikum zu machen oder noch eine Weiterbildung. Und die Endlos-Eltern? Die können mittlerweile in einer ganzen Bibliothek von Ratgebern schmökern, die ihnen sagen, wie die Mehrgenerationen-WG am besten funktioniert. MS
D
Design Als Kind dachte man ja, dass Aufräumen und Saubermachen voll die Zeitverschwendung ist („mich stört der Dreck nicht!“). Und was sagte die Mutter dann? „Ich bin doch nicht eure Putzfrau!“ Voll die Erpressung. Natürlich schämte sich das Kind. Dem französischen Designer Philippe Starck scheint dieses Gefühl fremd zu sein.
In seinen Mama-Shelter-Hotels in Marseille, Istanbul und Paris wird suggeriert, dass sich eine unsichtbare Übermutter um sämtliche Belange der Gäste kümmert. Wenn man ein sauberes Zimmer möchte, teilt man ihr das durch eine Karte an der Türklinke mit: „Mama, please clean my room!“ Ihrer Zuneigung tut das keinen Abbruch. „Mama loves you from head to tow“ steht auf der hauseigenen Seife. Die natürlich keine Seife ist, sondern „reine Mutterliebe in Flaschen“.
Und hätte diese Designer-Mama nicht so wahnsinnig viel zu tun (respektive zu putzen, vermutet der Gast), dann „würde sie uns gerne persönlich einseifen“. Spätestens da fremdschämt sich dann das Kind im Hotelgast. Christine Käppeler
H
Hartz IV Eine Zweckgemeinschaft kann auch eine Zwangsgemeinschaft sein: Wer jünger als 25 Jahre alt ist und Hartz IV bezieht, muss in der Regel bei seinen Eltern wohnen bleiben – gesetzlich verordnet. Ausziehen ist nämlich praktisch kaum möglich. Die Kosten für die eigene Wohnung und Heizung werden vom Staat nur übernommen, wenn der Umzug „zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist“ oder wenn „schwerwiegende soziale Gründe“ gegen das Wohnen im Hotel Mama oder sonstwie für den Umzug sprechen. So steht es im Sozialgesetzbuch. Es hilft übrigens auch nicht, kurz vor Ende einer befristeten Erwerbsarbeit noch schnell auszuziehen. Dann werden später auch keine Leistungen für die Unterkunft gezahlt. Felix Werdermann
K
Konservativ Der Begriff „Hotel Mama“ ist die Ausgeburt eines konservativen Ehe-Ideals. Sofern es ökonomisch nicht erzwungen ist, mag man diese Form des Zusammenlebens belächeln. Skurril, aber sie schadet niemandem. In Wahrheit entspricht die häusliche Kümmermami dem alten Schnittmuster der bürgerlichen Ehe und seiner Rollenverteilung. Das besagt ja schon der Name. Die Frau hält dem Mann den Rücken frei und schmeißt den Haushalt. Hier sind es die erwachsenen Kinder, die umsorgt werden wollen. Insofern ist auch die von Schwarz-Gelb eingeführte Herdprämie eine zusätzliche Verankerung dieses Mutterkomplexes. Tobias Prüwer
M
Monotonia Eine italienische Studentin fragte Berlusconi mal, wie sie ohne Job eine Familie gründen solle. Seine Antwort: „Heiraten Sie einen meiner Söhne.“ Er fand das komisch. Mario Monti, sein Nachfolger als Ministerpräsident, sagte im Februar 2012, junge Leute müssten sich daran gewöhnen, dass sie nicht ihr ganzes Leben eine feste Stelle hätten: „Wie eintönig wäre das.“ Er fand das realistisch. Auf Twitter brach unter dem Schlagwort #monotonia ein Spottgewitter über Monti herein. Es stimmt zwar, dass zwei Drittel der 18- bis 34-jährigen Italiener noch zu Hause leben, in Spanien sind es fast 70 Prozent. Der Ruf nach größerer Flexibilität und Mobilität aber führt ins Leere. Ohne Job keine eigene Wohnung, so die Gleichung. Und Jobs für Junge gibt es in Italien fast keine. MS
N
Nesthocker Als Nesthocker oder Nestling bezeichnet man in der Biologie jene Wirbeltiere, die nach der Geburt einige Zeit im elterlichen Bau verbringen. Sie kommen im Gegensatz zum Nestflüchter nicht vollständig entwickelt auf die Welt, sind zunächst hilflos und auf den Schutz, die Pflege, die Wärme und die Fütterung durch das Muttertier angewiesen. Vogelarten wie die Amsel, die Blaumeise oder das Rotkehlchen verlassen das Nest erst nach zwei, drei Wochen, wenn sie flügge sind. Fallen sie davor heraus, sind die Überlebenschancen gering, da sie noch nicht richtig fliegen können und ihren natürlichen Feinden hilflos ausgeliefert sind. Auch Nagetiere wie Kaninchen, Mäuse oder Hamster sind Nesthocker. Nackt und blind geboren, haben sie kaum Ähnlichkeit mit ihrem späteren plüschigen Erscheinungsbild.
Meine Mutter hat mal drei verlassene Wildkaninchen gefunden und päppelte sie mit der Einwegspritze auf. Sie überlebten und wurden schließlich, kräftig geworden, in einem schönen Waldstück wieder ausgesetzt. Der Begriff „Hotel Mama“ erfuhr für mich dadurch noch einmal eine ganz neue Bedeutung. Sophia Hoffmann
Ö
Ödipussi Mit dem Auftauchen eines möglichen Partners kollidiert mitunter die Lebensform Nesthocker. Loriot hat die damit verbundenen Turbulenzen idealtypisch verfilmt. Ödipussi erschien 1988 und schildert die Leiden des Junggesellen Paul Winkelmann. Mit 56 Jahren will der Möbelgeschäftsführer sich endlich emanzipieren und bei der Mutter ausziehen. Der Grund: Er wandelt auf Freiersfüßen. Das will der Mama nicht recht gefallen – wessen Hemden soll sie dann bügeln? Und auch als sie selbst einen neuen Wohngast zu Hause aufnimmt, bleibt Paul unter ihren Fittichen. Selbst den als Happy End gedachten ersten Kuss ihres Sohnes weiß die Mama noch in ein fast tödliches Drama zu verwandeln. TP
P
Psycho Das Hotel Mama kann der reinste Horror sein – die Filmgeschichte ist voll davon. Das berühmteste Beispiel lieferte Alfred Hitchcock 1960 mit Psycho. Darin lebt die herrschsüchtige Monstermutter über ihren Tod hinaus in ihrem Sohn weiter. Norman Bates ist der Prototyp des unberechenbaren Psychopathen, der sich plötzlich vom schüchternen Muttersöhnchen in einen perversen Messermörder in Frauenkleidern verwandelt. Die Schlusspointe, dass Bates’ Mutter als mumifizierte Leiche im Keller sitzt, hielt Hitchcock, so lange es ging, sogar vor seiner eigenen Crew geheim. Sie lässt einem auch heute noch das Blut gefrieren. Die psychologische Anlage – der schizophrene Sohn mit dem Mutter-Implantat – war eher flach. Der Spiegel nannte sie einst „Drei-Groschen-Pathologie“. MS
R
Revival Nicht nur das Hotel Mama erfährt ein Revival, sondern auch das Hotel Oma. Junge Menschen besinnen sich im Zuge der Familienplanung wieder auf die Vorteile, die eine räumliche Nähe zu den Eltern oder potenziellen Großeltern birgt. Ich kenne Fälle, in denen die pensionierten Eltern in die Nähe der sich fortpflanzenden Kinder zogen, um sie bei der Betreuung der Enkelkinder zu unterstützen. Genauso kehrte eine alleinerziehende Bekannte der Hauptstadt den Rücken und zog zurück in die Heimat, sie suchte mehr Natur und Familienbezug. Die Schritte müssen ja nicht gleich so drastisch sein, auch bei größeren Distanzen lassen sich viele Großeltern gerne mal als Kinder-Hotel einspannen. Ein Urlaub zu zweit, und sei es nur für ein langes Wochenende, kann für junge Eltern wie Flitterwochen sein. SH
W
Wäsche Früher gab es einen Typen, dessen Geschichten ich geliebt habe. Die Geschichten kamen im Fernsehen, und man konnte sie in Büchern nachlesen. Der nette Mann, der sie aufgeschrieben hatte, wirkte, als wäre er selbst noch ein Lausbub. Später, im Deutsch-Leistungskurs, erfuhr ich, dass dieser große Junge das Paradebeispiel eines Muttersohns war. Bis Mitte 40 hat Mama ihm die Wäsche gemacht, obwohl sie nicht einmal in einer Stadt lebten. Ich war 17 und habe als Tochter einer alleinerziehenden Mutter meine Wäsche selbst gewaschen. Ich war bitter enttäuscht von meinem Erzähler. Das Verhältnis zu seiner Übermutter nimmt einigen Raum ein in seinen Werken, lernte ich. Er schrieb täglich Briefe an Mama, in denen er sie auch über sein Liebesleben informiert hat – geheiratet hat er nie. Typisch, dachte ich. Heute habe ich meinen Frieden mit Erich Kästner gemacht und ahne, warum er noch immer so fabelhaft unterhält. Mareike Terjung
Z
Zuflucht Nicht nur Hannah Horvath, Protagonistin der US-amerikanischen Serie Girls, verbringt ab und an ein Wochenende in ihrem alten Kinderzimmer bei ihren Eltern. Auch hierzulande bleibt vielen Erwachsenen dieser Rückzugsort im elterlichen Heim erhalten. Eine seltsame Kammer voller sentimentaler Erinnerungen an die Kindheit, halb Grauen, halb Paradies. Leicht angestaubt, aber mit stets frisch bezogenem Kopfkissen. Beim Versuch, in dieser Umgebung Sex zu haben, fühlt man sich als mitgebrachter Partner auf Familienbesuch sofort wieder in die Teenagerzeit zurückkatapultiert – ein, nun ja, interessantes Gefühl. Nur Eltern, die über genügend Wohnraum verfügen, können es sich jedoch leisten, ihren Kindern diesen Zufluchtsort zu bewahren. In einer Drei-Zimmer-Wohnung wird daraus bald der Hobbyraum für Mutti. Ist vielleicht auch besser so. SH
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