Ab durch den Mischwald

Bücher Von Paris bis Stavenhagen: Neue Literatur von Raymond Federman, Thomas Kapielski und über Fritz Reuter

Raymond Federman hat immer wieder literarisch an seinem Überleben laboriert. Warum er, der von seiner Mutter im letzten Moment mit einem „Pssst!“ in die Abstellkammer geschoben worden war, ehe die Familie aus ihrer Wohnung in Montrouge bei Paris abgeholt wurde. Warum nicht die Schwestern, die mit den Eltern im KZ starben? Federman erzählt hier die Vor- und Nachgeschichte dieses mütterlichen „Pssst!“ in Sprüngen vor und zurück, mit Einwänden gegen und Spott über sich selbst. „Jetzt macht Federman auch noch todgeweihten Realismus.“

Oft sarkastisch und nicht ohne Bitternis ist das, wenn er etwa berichtet, wie die Nachbarn die Wohnung ausplünderten, dass es vor allem die armen Juden waren, wie seine Familie, die sich keine Zugfahrkarten leisten konnten, die deportiert wurden. Oder er erzählt, wie zuvor die Familie, zeitweise nach Argentan evakuiert, dort mit den deutschen Besatzern dealte. „Die große Ironie dabei ist, dass meine Eltern und meine Schwestern vielleicht als Kollaborateure in Argentan erschossen und nicht als Juden in den Konzentrationslagern ermordet worden wären.“ Das ist harter Text, aber immer wieder durchädert von mal wehmütigen, mal zärtlichen Kindheitserinnerungen, sentimental und frivol – und in alledem ein äußerst wirksames Antidot gegen die Versuchungen, dem Ressentiment angesichts der allfälligen Mahnungsprofessionals nachgeben zu wollen. Nicht zuletzt: Ein sehr schön gestaltetes Buch!
Pssst!

„Kunst ist schlimmer als Heimweh. Zu Zeiten, da doch jede Kamera und Druckmaschine malen kann, bleibt die Sprache wohl doch das feinste, Glashelle, Sinnendste. Das Genügsamste wäre ein an die Wand geheftete Gedicht.“ Wohl wahr! Aber bis zu dieser Erkenntnis hat Thomas Kapielski schon 190 Seiten drauflosschwadroniert und circa 150 folgen noch. In seinem neuen – ja, was? Tagebuch, Brouillon, Kladde? Am ehesten wohl Buch-Blog. Ein Sammelsurium von Notizen, Erlebeleien, Räsonnements, Lesefrüchten, Nettigkeiten und selbstzufriedenen Brabbeleien, aufgelockert durch dazu passende Abbildungkuriosi- und -banalitäten. Mehr Einfallsgestrüpp denn Mischwald. Doch ist Kapielski ja ein arg kluger Kopf und verdammt guter Beobachter.

So bleibt, selbst wenn man vieles überschlägt, immer noch eine faire Portion belehrende Unterhaltung fürs Geld! Selbst das Überschlagene aber ist allemal interessanter als jedes unfreiwillig mitgehörte ICE-Gerede. (Vgl. S. 272 - 274) Versprochen!

Das große Handicap für Fritz Reuter, heute so populär sein zu können wie er noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, liegt wohl vor allem darin, dass er meist Niederdeutsch schrieb und die gelungenen Übersetzungen durch Friedrich Minssen so wenig bekannt sind. Reuter ist und bleibt ein begnadeter Erzähler, borstiger Humorist und politisches Schlitzohr. Natürlich hat er sein kleines gallisches Dorf, Stavenhagen in der Mecklenburgischen Schweiz, mit dem wunderschönen Reuter-Museum. Und er hat seine getreuliche Gemeinde der Fritz-Reuter-Gesellschaft. Dazu offenbar finanzkräftige Förderer.

Wie anders könnte es ein, daß man nun Reuters Briefe der Jahre 1827 - 1860 zu einem geradezu schwindelerregend günstigen Preis bekommt. Fast 850 hausbibelartige Seiten, höchst gediegen in Aufmachung wie Kommentar. Beginnend mit den hingebungsvoll unterwürfigen Fintierereien des auswärtigen Schülers gegenüber dem gestrengen Vater. („Dich betrügen kann ich nicht, und werde es nie können.“) Hier trainiert, ohne daß er das weiß, bereits der fabulöse Romancier. Und so lesen die fast durchweg hochdeutsch geschriebenen Briefe sich fort zu einer Biographie eines, dessen Leben wie Schreiben darin bestand, sich beständig auf Komment und Kurs bringen zu wollen, doch noch in den Korrekturen heillos abzuweichen. („Man kann ein guter Mensch sein und doch ein schlechter Musikant, und man kann ein passabel guter Schriftsteller sein, aber doch ein unhöflicher, ja undankbarer Mensch“, schreibt er, Ponce de Leon zitierend.) Zunehmend geht es dann natürlich auch um sein und anderer literarisches Werk. Auch das eine Fundgrube zum Autor wie zum damaligen Betrieb. Ach, mögen es doch die Finanzen der Finanziers zulassen, daß bald auch alle anderen, die Briefe bis 1874 erscheinen!


Geschichte einer KindheitRaymond Federman. Bonn, Weidle 2008, 203 S., 23,00

MischwaldThomas Kapielski. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, 348 S., 14,00

Arnold Hückstädt (Hg.)Fritz Reuter Briefe, Bd. 1 (1827 - 1860). Hinstorff, Rostock 2009, 848 S., 19, 90

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden