In der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober 1989 begeben sich ein Filmemacher und ein Grafiker von der legendenumwobenen Schöneberger Bar Ex & Pop in das naheliegende Studio des alternativen Senders Radio 100 an der Potsdamer Straße. Sie haben einen Koffer voller Audiokassetten dabei und einen Plan. Uli M. Schueppel und Johannes „Joe“ Beck sind auf dem Weg zu ihrer Radiosendung Shlim Line Show, mit der sie seit zwei Jahren wöchentlich, immer zwischen zwei und vier Uhr morgens, auf diesem wahrhaft experimentierfreudigen Sender die Grenzen des Radiomachens ausloten.
Jede Sendung ist ein akustischer Trip, zusammengesetzt aus vorproduzierten Schnipseln und Samples. Die Hörerschaft kann sich per Telefon einschalten, Improvisation der Moderatoren – mit und o
n – mit und ohne Gäste – lässt die Show in eine oft berauschende Kakophonie ausarten.Es ist ein Experiment, wie es zu der Zeit wohl nur in Westberlin möglich ist, ins Leben gerufen von Leuten, die das (nächtliche) Kulturleben im Fahrwasser von Nick Cave, Crime & the City Solution oder den Einstürzenden Neubauten prägten. Das Ex & Pop ist das Wohnzimmer dieser Szene, wo Uli Schueppel hinter dem Tresen auch mal eine Zeit lang einen von der Betreiberin Evelyne Obermeier erhaltenen Kredit für einen Film abarbeitet.In der Woche vor der anstehenden Ausgabe, am 17. Oktober also, in der die Musikerin Gudrun Gut zu Gast ist, platzt die Meldung vom Erdbeben in San Francisco in die Sendung. Der ansonsten stumme Ticker im Nebenraum spuckt plötzlich unentwegt Nachrichten aus. Allerdings glaubt niemand aus der Hörerschaft die vorgelesenen dpa-Meldungen, zu passend scheinen sich die Katastrophenmeldungen in den apokalyptischen Duktus der Show einzufügen. Vielmehr glaubt man, einem gut konstruierten Hörspiel beizuwohnen. In der Woche darauf wollen die Radiomacher die Schraube noch etwas stärker anziehen; inspiriert vom 1938 über den Äther gegangenen Hörspiel Krieg der Welten von Orson Welles, das Hunderte von Menschen in Panik vor der angeblichen Landung Außerirdischer auf die Straßen trieb.Was ist noch unwahrscheinlicher als die Landung von Aliens? Die Show plätschert so dahin, bis ein überzeugend fassungsloser Schueppel die dpa-Meldung verliest: „Berlin, 24. Oktober 1989. Wie aus gewöhnlich gut unterrichten Kreisen verlautet wurde, hat die SED-Führung in einer geheimen Sitzung die völlige Öffnung der innerdeutschen Grenze in beide Richtungen beschlossen. Der Beschluss soll auf einer Pressekonferenz heute Mittag, 12 Uhr, verkündet werden und ab sofort wirksam sein.“Er liest die Meldung noch einmal. Was folgt, ist eine Vorwegnahme der zweieinhalb Wochen später tatsächlich beginnenden Rezeptions- und Diskursgeschichte des Ereignisses. Tatsächlich werden von den Anrufenden bereits an diesem 23. Oktober die nach dem 9. November üblichen Witze gerissen („Wir gehen alle rüber, sie kommen alle zu uns“), wird sofort über billigen Wohnraum spekuliert, kommt die obligate Liebesgeschichte („ich hab eine Geliebte drüben“) zum Zug und verbreitet sich, neben der Freude, auch die im Westen schnell aufkommende Sorge über die nun einfallenden Ossis. Zwischen aberwitzigen Dialogen („Ich will aber nicht rüber“ – „Es herrscht ja kein Reisezwang“) wird auch über den Gehalt von Nachrichten überhaupt im Zeitalter ihrer elektronischen Verbreitung nachgedacht. Ebenfalls bemerkenswert ist der Kommentar eines Hörers, der in einer ARD-Sendung erfahren hat, dass der Menschheit wegen des Klimawandels (!) nur noch dreißig (!) Jahre blieben, um nicht unterzugehen, und der nun das Resümee zieht, dass diese jetzt wenigstens im vereinten Deutschland stattfänden.Die Schar der Anrufenden bildet einen repräsentativen Querschnitt des Westberliner Nachtvogeltums ab, angesiedelt zwischen urbaner Verlorenheit und der Lust an (seinerzeit noch analog generierten und verbreiteten) Verschwörungstheorien. Als ein sich „Gott“ nennender Hörer zusammen mit seiner „Schwester“ die zweite Strophe des Deutschlandliedes intoniert, kontern das die Macher geistesgegenwärtig mit der Internationale, die sie darüberlaufen lassen. Für das am nächsten Tag einberufene Plenum der Redaktion ist das zu viel beziehungsweise zu wenig Abgrenzung. Man habe zu postmodern agiert. Anstelle der Mauer wird „mit sofortiger Wirkung“ die Sendung abgesetzt. Somit steht die Shlim Line Show auch für ein frühes Beispiel eines heute noch viel rigideren PC-Diktats.Am Morgen des 10. November 1989 kommt Schueppel nach einer Nachtschicht aus dem Schneideraum, wo er gerade an seinem Film über Nick Caves erste US-Tournee arbeitet. Auf dem Theodor-Heuss-Platz, der einmal Adolf-Hitler-Platz hieß, zündet er sich gerade eine Zigarette an, als von Heerstraße und Kaiserdamm her unzählige Trabis mit ihrem trötigen Hupen die Straßen fluten. Die Realität bemächtigte sich der Fiktion – womöglich nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal.Placeholder infobox-2Placeholder infobox-1