Abakus

KOPFRECHNERIN Jürgen Seidel erzählt die Geschichte des Mädchens, das mit Zahlen spricht

Schon als kleines Mädchen hatte sie ihren eigenen geheimnisvollen Abakus: Die Knöpfe ihrer Mutter, die es galt, immer wieder neu zu sortieren und zu verschieben. Aus Holz und Perlmutt waren sie, ja manche sogar aus Elfenbein. Auch jetzt, als man ihr sagt, ihre Eltern seien beide tot, lässt sie die Knöpfe durch die Hände gleiten. Und es entsteht eine Ordnung, eine klare Übersicht, die Halt gibt.

So beginnt der neue Roman von Jürgen Seidel. Und es ist fast schon der einzige Augenblick im ganzen Buch, wo von einer Ordnung überhaupt die Rede sein kann. Denn wie den Leser so erfasst auch die Heldin des Buches, die 15-jährige Chiara Lisa Morelli, immer mehr Verwirrung und Aufgeregtheit, je mehr der Autor die Geschichte von der "Kopfrechnerin" vorantreibt.

Als ihre Eltern auf mysteriöse Weise ums Leben kommen, angeblich durch einen defekten Ofen, wird Chiara in das kalte Berlin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschickt. Dort kommt sie in das Haus ihres Onkels, eines merkwürdigen Professors, der im Auftrag höchster Stellen an geheimen mathematischen Projekten zu arbeiten scheint. Chiara soll für ihn rechnen. Doch was sie zunächst gerne tut, entwickelt sich zum Albtraum: Ihr Cousin wird gefoltert, sie selbst in einem Zahlenzimmer eingesperrt.

Schnell erweist sich, dass Chiara ein besonderes Verhältnis zu Zahlen hat, ähnlich wie ihr Vater, der an einer Chiffriermaschine gearbeitet hat. Chiara übertrifft alle Kopfrechner ihrer Zeit, vielleicht weil die Zahlen für sie anders sind als für die Lohn-Kopfrechner in Diensten des Königs. Sie spricht mit den Zahlen, weiß um deren Vorzüge und Abgründe. Am Ende wird sie so etwas wie die Chef-Kopfrechnerin des Königs.

Jürgen Seidel gelingt ein großer Wurf: Er hat ein sprachgewaltiges Buch geschrieben, das vor Ideen und Einzelheiten nur so strotzt, angesiedelt in einer Zeit, als die Menschen an die Wunder der Technik und die Kunst der Berechnung zu glauben beginnen. Er hat zugleich auch den höchst sensiblen Entwicklungsroman eines hochbegabten Mädchens verfasst, das sich durch das Chaos eigener Gefühle und Verunsicherungen hindurch ein eigenes Selbstbewusstsein schafft.

Jürgen Seidel: Die Kopfrechnerin, Beltz, Weinheim 2001, 332 S., 28,- DM

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden