Seit Wochenbeginn wird Polen von einem Minderheitskabinett regiert. Nachdem Präsident Kwasniewski die drei neuen Minister der Wahlaktion Solidarnosc (AWS) für die Ressorts Finanzen, Justiz und Verkehr vereidigt hat, steht Premier Jerzy Buzek vermutlich in seinem letzten Gefecht als Regierungschef. Vieles spricht dafür, dass die Scheidung der AWS vom bisherigen Koalitionär Freiheitsunion (UW) eine Art Dämmerstunde für das "August"- beziehungsweise "Ethos"-Lager eingeläutet hat. Skepsis verdient allerdings auch das Wunschdenken der oppositionellen Linksallianz (SLD), die planmäßige Evakuierung des liberalen Juniorpartners aus der Regierungsverantwortung in "eine konstruktive Opposition" verheiße Morgenrot für eine generell neue politische Konstellation. Wie zutreffend oder übertrieben die Spekulationen über die mittelfristigen Folgen der mit der jüngsten Regierungskrise verbundenen Turbulenzen auch sein mögen - soviel scheint festzustehen: Polen durchlebt eine Übergangszeit, mit der nicht nur die erste Transformationsdekade beschlossen wird, sondern auch die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc ihrem "Thermidor" entgegentreibt. Kaum je nach dem Bruch von 1989/90 war sie weiter vom August 1980 entfernt, als mit dem Streik auf der Danziger Lenin-Werft ihr Aufstieg begann.
Der Zustand des "Ethos"-Lager ist derart prekär, dass es seinen Namen kaum mehr verdient. "Ethos" bezeichnet eine Zusammenballung aller aus dem Auguststreik von 1980 hervorgegangenen politischen Kräfte. Außer der - wie man damals noch sagte - Arbeiterklasse gehörten diesem Lager besonders viele namhafte Intellektuelle an, die der mächtigen Streikbewegung und den originellen Forderungen der vom "realsozialistischen" Staatskapitalismus ausgebeuteten Millionen Polen den notwendigen politischen Schliff verleihen konnten.
20 Jahre, die seit diesem wundervollen Bündnis aus Arbeitern und Intellektuellen vergangen sind, mögen ein ausreichender Zeitraum sein, um das Auseinanderdriften der damals gegen einen gemeinsamen Feind Anrennenden als einen ganz normalen Prozess zu betrachten. Darin bestand schließlich das Schicksal aller Revolutionen - und die Solidarnosc-Erhebung gegen den polnischen Einparteien-Staat war eine. Dass dann nach Ausrufung des "Kriegszustandes" vom Dezember 1981 eine sieben Jahre (bis 1989) währende und durch das letzte Aufgebot der sogenannten Kommune erzwungene "Pause" in der friedlichen Solidarnosc-Revolution einsetzte, hat die "Bewegung" zwar geschwächt und zu Umgruppierungen gezwungen, doch blieb sie in ihrem Kern stets unangetastet. Das "Volk" und die führenden demokratischen Eliten bewahrten ihr Bündnis.
Mit dem Sieg bei den ersten halbwegs freien Wahlen am 4. Juni 1989 - noch signifikanter mit dem Erfolg bei den Parlamentswahlen von 1991 - setzte in der Solidarnosc ein Gärungsprozess ein, der die Bewegung zu atomisieren begann. Die 21 Parteien (darunter nur eine "postkommunistische") im Sejm der ersten Legislaturperiode nach der Wende waren ein Indiz dafür. Drei Regierungen (Mazowiecki, Bielecki, Olszewski) sahen sich bald durch die Streitigkeiten im "S"-Lager verschlissen, und auch die vierte - das Suchocka-Kabinett - wurde im Mai 1993 gestürzt. Das geschah nicht etwa durch den Streit um ein Gesetzesprojekt, sondern als Konsequenz eines von der Solidarnosc-Fraktion eingebrachten Misstrauensvotums, das die Regierung grundsätzlich in Frage stellte. (Die Solidarnosc hatte als Gewerkschaft damals noch eine selbstständige Fraktion).
Die folgenden vier Jahre, als das "linke" SLD-Bündnis mit der Bauernpartei (PSL) die Regierungskoalition stellte, trieben die "postsolidarischen" Eliten zu der Einsicht, dass ihnen mit dem chaotischen Parteiengemenge nur weiterer Schaden bevorstehe. Außer der konsolidierten und auf eine ziemlich stabile Wählerschaft abonnierten Intellektuellen-und Unternehmer-Partei Freiheitsunion (UW) waren die übrigen "Konservativen", "Nationalen", "Christlichen", "Zentristischen", "Bäuerlichen", "Liberalen", "Demokratischen" und sonstigen "Kanapee"-Parteichen, die allesamt bei zwei bis drei Umfrage-Prozenten dahin dümpelten, keine ernst zu nehmende Kraft. Erst als es dem neuen Solidarnosc-Chef Marian Krzaklewski 1996 gelang, all diese Splittergruppen in der Wahlaktion Solidarnosc (AWS) zusammenzuschweißen - allerdings bei Erhalt von fünf (!) quasi-selbstständigen Bestandteilen - und die "Linksregierung" bei den Wahlen ein Jahr später auszubooten, konnte die "Revolution" wieder Tritt fassen. 221 AWS-Sitze im 460-köpfigen Sejm waren indes zu wenig, um allein regieren zu können. Also ging man unter der Parole "wir sind ja alle vom Ethos" die Koalition mit der Freiheitsunion und ihrem Frontmann Leszek Balcerowicz ein. Nach 31 Monaten kam ein Ende mit Schrecken.
Dafür sind gewiss auch die bedenklichen sozialen Folgen der schlecht vorbereiteten vier "großen Reformen" (Gebiets-, Gesundheits-, Bildungs- und Rentenreform) verantwortlich, weil sie Polens postsozialistische Gesellschaft noch tiefer in reich und arm gespalten haben. Der wahre Grund aber liegt in den prinzipiellen Widersprüchen zwischen den von beiden Koalitionären vertretenen Interessen. Der in entscheidendem Maße von internationalen Geldinstituten oktroyierte neoliberale Wirtschaftskurs des Vizepremiers Balcerowicz war einfach mit den Wahlversprechungen wie den Erwartungen der AWS-Klientel unvereinbar. Von den erwähnten fünf Bestandteilen der AWS meuterte die Solidarnosc-Fraktion immer öfter gegen die Politik von Balcerowicz. Die Revolution verlor ihre Kinder - und die Solidarnosc an Anhängern, je mehr bei der Erfüllung der EU-Auflagen auf Tempo gedrückt wurde. Wenn im Juni 2000 93 Prozent der Bauern und 82 Prozent der Arbeitnehmer meinen, es gehe ihnen schlechter als zu Zeiten der "Kommune", oder wenn die "21 Postulate" des Auguststreiks von 1980 durch den Anhang der Freiheitsunion als "populistische Demagogie" denunziert werden, dann ist dies eine Situation, in der die Frage nach Gültigkeit und Glaubwürdigkeit des Solidarnosc-Ethos (Freiheit, Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit) recht verständlich erscheint.
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