Die Nachrichtenseite The Intercept – für die ich als Kolumnistin schreibe – veröffentlichte 2019 ein siebenminütiges Video mit dem Titel Eine Botschaft aus der Zukunft, mit Alexandria Ocasio-Cortez. Es handelte sich um einen Kurzfilm mit Illustrationen der Künstlerin Molly Crapabble und einer Erzählung von AOC, der bekanntesten Politikerin der Democratic Socialists, der eine utopische Zukunft in gerade einmal 20 Jahren beschrieb.
AOCs gezeichnetes Alter Ego sitzt im Jahr 2039 in einem Hochgeschwindigkeitszug von New York nach Washington D.C. (so ein Verkehrsmittel existiert bislang nicht). Sie schwärmt nostalgisch davon, was geschah, nachdem sie und ihre Kolleg*innen im Jahr 2019 den Green New Deal vorgestellt und die Demokraten im darauffolgenden Jahr das Weiße Haus und die Mehrheit im Senat zurückgewonnen hatten – was dann ja wirklich so kam: Eine mutige Gesetzgebung entwöhnte die USA rasch von den fossilen Brennstoffen und führte sie in eine Zukunft, in der Klimagerechtigkeit sowie soziale und ökonomische Gerechtigkeit herrschen und es keine rassistische Diskriminierung mehr gibt. In dieser fiktiven Zukunft rekapituliert AOC, wie beherzte staatliche Investitionen und ein elanvoller politischer Wille den Übergang in eine grüne Wirtschaft gewährleisteten, mit einer Krankenversicherung für alle, staatlichen Jobgarantien, Respekt gegenüber indigenen Wissenssystemen, Arbeitnehmerrechten; eine Welt, in der sich menschliches und nichtmenschliches Leben entfalten kann.
Heute? Brennt die Welt
Das Video sollte eher der Inspiration dienen als eine Vorhersage treffen. Mir kam der Optimismus damals realitätsfremd vor, gleichzeitig reichte mir die Utopie nicht weit genug. Dieser Widerspruch wohnt den meisten Green-New-Deal-Vorhaben inne, die außerordentliche sozio-ökonomische und politische Veränderungen voraussetzen, aber auf die aktuellen kapitalistischen und nationalstaatlichen Strukturen angewiesen sind, um sie umzusetzen.
AOCs Erzählung geht auf den Kapitalismus nicht weiter ein, und selbst in diesem Traumbild von 2039 geht alle Macht vom Kapitolshügel in Washington D.C. aus. Unerwähnt bleiben auch die Kosten für Mensch und Umwelt, die das Schürfen von Indium, Neodym und Lithium verursacht – den Mineralien, die benötigt werden, um die vermeintlich grüne Energie zu produzieren, die für die Abkehr von der Kohle notwendig ist. Kein Wort dazu, dass der kapitalistische Wachstumszwang mit dem Erhalt oder besser noch einer positiven Entwicklung des Klimas unvereinbar ist. Wie es der Theoretiker Jasper Bernes in seiner Kritik der Grenzen des Green New Deal formulierte, „wir können nicht alles beim Alten lassen und alles ändern“.
Und dennoch tut es weh, das Video zwei Jahre später wieder anzusehen. Nicht einmal die bescheidenste Version des Green New Deal – ein zaghafter klimaorientierter Keynesianismus – ist noch auf dem Tisch. Der Green New Deal von 2019, der kein Gesetzesvorhaben, sondern ein Bündel an nicht-verbindlichen Vorschlägen zur Reduktion von Treibhausgasen war, schaffte es nicht durch den Senat. Er besteht als konzeptionelles Gerüst fort, das sich aus vernünftigen Ideen für Investitionen in grüne Energien, nachhaltige Infrastruktur und die Care-Ökonomie zusammensetzt. Trotzdem besteht wenig Hoffnung, dass Joe Bidens historisches Infrastrukturpaket, über das aktuell verhandelt wird, auch nur annähernd ein Green New Deal ist. Zeitgleich steht die Welt in Flammen.
Die Klimakatastrophe erreicht die reichen Nationen, deren imperialistisches und ausbeuterisches Verhalten das zerstörerische Kapitalozän in Gang setzte. Im dürregeplagten Westen der USA wüten die Feuer so schnell und unkontrollierbar, dass sie die Wetterlage beeinflussen und in weiten Teilen des Kontinents den Himmel mit Rauch füllen. Süditalien, Teile Griechenlands und der Türkei stehen in Flammen, nie dagewesene Überschwemmungen zerstören ganze Landstriche in Deutschland, fordern Menschenleben. Wobei die Bewohner der ärmeren Nationen nach wie vor an vorderster Front stehen und die ersten Opfer des Klimawandels sind. „Aber der weiße Mann ist auf dem Mond“, wie Gil Scott-Heron es 1970 formulierte; oder um 2021 präziser zu werden: Jeff Bezos ist im All.
Wenn wir uns die Kluft ansehen, zwischen dem Punkt, an dem wir uns befinden, und dem, wo wir sein müssten, um die Auslöschung durch den Klimawandel noch abzuwenden, mag es nicht hilfreich erscheinen, die uneingelösten Versprechen des Green New Deal als unzureichend zu kritisieren. Sollten wir uns nicht hinter jeden Vorschlag stellen, der die Hegemonie des fossilen Kapitalismus einhegt und den CO₂-Ausstoß entscheidend reduziert? Aber genau diese Unzulänglichkeiten des Green New Deal sind in vielerlei Hinsicht die Gründe, aus denen das gesamte Rahmenwerk mehr Traum als Realität blieb. Er tut so, als könnten kapitalistisches Wachstum und ökologische Nachhaltigkeit Hand in Hand gehen. Doch der Wachstumszwang des Kapitalismus ist die entscheidende Hürde für die Umsetzung dieses Konzepts.
Damit ein Green New Deal funktionieren kann – und da sind Politikerinnen wie AOC ganz offen –, reicht der Übergang vom Öl zu nachhaltigen Energien nicht aus. Erstens sind die Ressourcen der dafür notwendigen Mineralien zu begrenzt und zweitens führt ihr Abbau andere Formen der Umweltzerstörung herbei. „Grüne Jobs“ müssen jenseits des Energiesektors entstehen: Krankenschwestern, Pfleger, Lehrerinnen – in diese Bereiche müssen grüne „Investitionen“ fließen. Aber trotz der Fähigkeit des Kapitals, alle Aspekte des Lebens zu privatisieren und aus ihnen Profit zu schlagen, ist das Wachstum in der Care-Ökonomie begrenzt. Eine Realpolitik, die auf kapitalistische Absegnung angewiesen ist, wird nicht in der Lage sein, einen politischen Wandel herbeizuführen, der sich gegen unbegrenztes Wachstum richtet – genau das müsste ein erfolgreicher Green New Deal aber tun. Keine grüne Initiative der Welt wird es schaffen, den Kapitalismus einzudämmen.
In diesem Sinne behindert der historische Verweis auf Franklin D. Roosevelts New Deal in den 1930ern unsere heutigen Überlegungen zur ökologischen Transformation. Roosevelts New Deal war ein Transformationspaket, das aus keynesianischen Wirtschaftsreformen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bestand. Wie sein mutmaßlicher grüner Nachkomme stieß es auf erbitterten Widerstand der Konservativen. Der ursprüngliche New Deal zielte darauf ab, in Zeiten einer Wirtschaftskrise das Wachstum wiederzubeleben; er mag zwar staatliche Kontrolle ausgeübt haben, um die Arbeiterschaft mit mehr Macht gegen gewisse monopolistische Unternehmerinteressen auszurüsten, aber er richtete sich nicht gegen das grundsätzliche Wachstumsinteresse des Kapitals. Ein Green New Deal, wie Bernes feststellt, „verfolgt kompliziertere Ambitionen: Anstatt den Kapitalismus anzukurbeln, muss er ihn dazu bringen, einen Weg einzuschlagen, der für die Kapitalbesitzer langfristig sicherlich schlecht ist“.
Der Green New Deal mag einen neuen Standard gesetzt haben, an dem sich die Klimapolitik und Gesetzgebungen in den USA und darüber hinaus messen lassen müssen. Die politische Neuorientierung, die wir benötigen, kann uns hingegen nur ein Kampf gegen den Klimawandel liefern, der den ausbeuterischen, zerstörerischen Kapitalismus und das Privateigentum ablehnt. In den USA, Kanada und Südamerika wird dieser Kampf sehr konfrontativ und zuvorderst von Indigenen geführt. Ein Sinnbild dafür war das Protestcamp in Standing Rock, 2017. Es ist kein Widerspruch, einerseits an direktem Aktivismus wie der Blockade einer Ölpipeline teilzunehmen und andererseits eine allgemeine Krankenversicherung und gewerkschaftlich geschützte Arbeitnehmerrechte zu fordern. Beides ist notwendig. Die indigene Klimabewegung betont ein Verhältnis zu Grund und Boden, das keinen Grenzen unterworfen wird, und hält den Wert des Lebens statt dem des Kapitals hoch. In den Green New Deals steckt vieles, wofür wir dringend kämpfen müssen. Aber wir erreichen nichts, wenn wir weiter glauben, es ginge darum, einen Deal zu schließen. Es geht darum, einen Kampf zu gewinnen.
Kommentare 22
"Anstatt den Kapitalismus anzukurbeln, muss er ihn dazu bringen, einen Weg einzuschlagen, der für die Kapitalbesitzer langfristig sicherlich schlecht ist“
Aber damit das nicht passiert haben wir zuerst mal unsere Leidmedien (!), dann die gesponsortn Politiker und innen, es folgt die Polizei und mit dem Notstand von nationaler Tragweite das Militär - samt Uniter, Nordkreuz und anderen.
Danke.
Chris Hedges ist ein großartiger Journalist, AOC ist eine korrupte Karrieristin, die nicht mehr glaubwürdig ist. Wie die komplette "Squad", wie Bernie Sanders, wie alle "Progressives" bei den Demokraten.
Sorry, die Us-Amerikaner sitzen auf den größten Anthrazitkohlevorkommnissen der Erde, also beste Kohle, aus der & mit der Stahl gekocht wird. Das die Stahlindustrie und Kohleförderung in den USA marginalisiert wurde (nach dem wenig ruhmreichen Vietnamkrieg, an dem die amerikanische Stahlindustrie mächtig mitgemischt hat, galt es für die Reagan Administration, die mächtigen Gewerkschaft zu brechen s- Aufstieg der Medien- und Unterhaltungsindustrie mit ihren prekären Beschäftigungsverhältnissen) liegt nicht an einer nachvollziehbaren, nicht mehr auf fossile Brennstoffe setzenden Politik, sondern u.a. an einer mächtigen, tief in der Politik verankerten Öl- Lobby (bestes Beispiel die Bush-Familie selber).
Man kann grundsätzlich über den Einsatz von fossiler Energien nachdenken, doch Stahl wird auch in Zukunft gebraucht, inzwischen aber von mächtigen indischen, chinesischen Konzernen produziert mit Kohle, die auch im übertragenen Sinne unter unterirdischen Bedingungen (Arbeits-Umweltschutz, brutale Unfälle, Kinderarbeit, verkürzte Lebenszeit etc.) gefördert wird.
Wenn Leute wie Jeff Bezos oder Richard Branson den Weltraumtourismus für sich und Ihresgleichen entdecken, wundert mich das gar nicht, nachdem die Grand Tour durch die Eisenbahn, die Schifffahrt durch Billigflüge ihre Exklusivität verloren haben, Koks und anderes auch so furchtbar billig geworden sind, braucht es einen neuen Kick, koste es, was es wolle. Schließlich spendet „Mann“ ja regelmäßig und erleichtert so sein Gewissen wie einst die Eingeweide als Völlerei noch Ausdruck von Luxus war.
Es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag. Der wird aber nicht in den USA ausgehandelt werden. In einem welthistorischen Prozeß, der die Menschheit in ruhigeres und hinreichend fließendes Gewässer bringt, wird dieses Land am Rand stehen. Vergeßt Amerika. Ich bin mir nicht sicher, ob man nicht auch sagen muß, vergeßt Europa.
https://www.youtube.com/watch?v=pUMMmF98S8w
"Vergeßt Amerika."
Der von mir sehr geschätzte Chris Hedges findet deutliche Worte über den Zustand Amerikas aus seiner Sicht:
https://www.youtube.com/watch?v=XfvKbOyxR-8
"Jeff Bezos ist im All".
Da gehört er auch hin.
...aber eine komische Überschrift für diesen Artikel…
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Eine Reihe von verschiedenen internationalen Green-New-Deal-Strategien können unter dem gemeinsamen Dach von ‚Transformational Change‘ beherbergt werden.
https://www.undp.org/content/dam/undp/library/Cross-Practice%20generic%20theme/TransformationalChange_Booklet_web-EN.pdf
Die Version von Alexandria Ocasio-Cortez's ‚Green New Deal‘ ist eine von verschiedenen US-Versionen, hat sich aber in den internationalen Medien festgesetzt, insbesondere bei denen mit West-Orientierung oder mit Orientierung auf die Democratic Party.
Schon im Vergleich mit dem ‚Green New Deal‘ der US-amerikanischen Grünen gibt es erhebliche Unterschiede.
https://www.gp.org/
Eine der am weitesten entwickelten Versionen in Europa ist wahrscheinlich die UK-Variante von Labour.
https://www.labourgnd.uk/
In Deutschland und Europa ist noch eine erhebliche theoretische und praktische Auseinandersetzung mit den verschiedenen GND Konzepten zu führen.
Jedoch, wer kann dies leisten?
Auch bei diesem wichtigen Thema macht sich die schwache internationale Vernetzung der PdL und der grünen Partei negativ in die Politikentwicklung bemerkbar.
Generell gilt, dass ein systematisches Abarbeiten (Monitoring und Analyse) der kompletten ‚Sustainable Development Goals‘ eine gute Einstiegmatrix für die weitere Diskussion und fortzusetzende Konzeptualisierung, auch in Deutschland, liefert.
https://sdgs.un.org/goals
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https://www.youtube.com/watch?v=0tpj505RZxA
Africa Mokili Mobimba | Playing For Change
Der Beitrag haut zwar in Sachen Fundamentalkritik ziemlich auf den Putz – nicht zuletzt auch in Sachen Kritik am Konzept des Green New Deal. Von der Herangehensweise allerdings ist er äußerst wenig »klimaschonend«: AOC und der Rest der im linken Flügel der US-Demokraten beheimateten Progressives werden mit einer Nonchalance auf den Misthaufen der Geschichte befördert, als hätte die Linke zeitlich wie personell noch 10.000 andere Optionen offen. Will heißen: In ihrem Talent, die eigenen Leute von Sockel zu stoßen, war die Linke schon von je her unvergleichlich. In ebendiese Tradition des Besserwissens reiht sich leider auch der Beitrag von Natasha Lennard ein.
Zur Kritik selbst: Dass die US-Progressiven starke Konzessionen an den zentristischen und rechten Parteiflügel machen mußten, lag angesichts der Kräfteverhältnisse sowie der Tatsache, dass eben Biden nominiert wurde und nicht Sanders oder jemand anderes vom linken Flügel, doch auf der Hand. Angesichts dieser Realität sind die guten zwei Fragen doch, ob a) etwas anderes im Rahmen des Möglichen gelegen hat und b) das GND-Konzept in die Tonne getreten gehört, so wie es offensichtlich Lennard vermeint.
Ich denke, a) kann man schlicht und ergreifend mit »Nein« beantworten: Ohne Bidens Wahlsieg hätte Trump seine Version von US-Faschismus konsolidiert; bereits dieses Ergebnis der November-Wahl ist für Fortschrittliche ein veritabler Erfolg. Die Frage b) kann man meines Erachtens nur dann seriös mit »Ja« beantworten, wenn eine schlüssige Alternativstrategie vorliegt. Meines Wissens gibt es eine solche nicht. Die Richtung, die Natasha Lennards Beitrag anskizziert, kann letztlich nur in eine aktivistische Richtung der Sorte führen, wie sie Gruppen wie Extinction Rebellion propagieren. Auch diese lassen die soziale Seite einer anstehenden Transformation völlig außen vor; auch bei dieser wird eine grün angetünchte Form von Ökodiktatur zumindest wohlwollend in Kauf genommen.
Nicht nur umgangstechnisch halte ich Abrechnungen mit AOC und anderen Progressiven in der Art dieses Beitrags für stark verfrüht. Die Arbeiterklasse ist besser damit bedient, ihre guten Leute zu halten und mit diesen zusammen die weitere Richtung finezutunen. Alarmismus und Fundamentalkritik hingegen haben der Linken bislang in den seltensten Fällen geholfen.
Das Abschießen der eigenen Leute fängt übrigens auch damit an, dass man – nachdem man sie über Monate/Jahre über den grünen Klee gelobt hat – unvorteilhafte Artikel über sie mit unvorteilhaften Bildern bestückt.
Das sehe ich komplett anders. Die Squad mit ihren wenigen Mitgliedern ist das Zünglein an der Waage im Kongress. Sie müssten viel aggressiver auftreten. Ohne sie können Biden, Harris, Pelosi und das DNC-Establishment nichts tun. Sie haben trotzdem überhaupt nichts Relevantes erreicht (wie Medicare for All oder eine Erhöhung des nationalen gesetzlichen Mindestlohns) und verhalten sich entweder sehr naiv oder sind gekauft.
Wann, wenn nicht jetzt, mit einer de-facto-Mehrheit in beiden Häusern sollten die Demokraten etwas erreichen...?
Erstmal verfüge ich natürlich über viel zu wenig Nahbeobachtung, um das Agieren der Squad in Kongress & außerhalb treffsicher einschätzen zu können. Allerdings frage ich mich, was sie (viel) mehr erreichen sollten, wenn der Mainstream ihrer Partei den Biden-Leuten folgt (und auch das wohl nur im besten Fall). Zugespitzt formuliert: Sollen sie zusammen mit den Reps gegenstimmen? Mit vier Leuten mehr eigene Anträge einbringen?
Ich formuliere die Fragen bewusst ergebnisoffen – auch wenn sie meine Zweifel, dass vier Parlamentarierinnen Bewegendes erreichen könnten, sicherlich durchscheinen lassen. Die wichtigere Frage in meinen Augen allerdings ist, welche Karten die Progressiven und Linken in den USA sonst noch auf der Hand haben. Der republikanische Ansturm (mit Trump inklusive) ist keinesfalls gebannt. Vielleicht bin ich altersvorsichtig geworden, aber: Wäre es im Anblick eines noch keinesfalls konsolidierten Teilsieges nicht weitsichtiger, die außerparlamentarischen Strukturen zu vertiefen, weitere Bündnisse zu schließen und insgesamt das, was sich Progressive Movement nennt, noch stärker in die Tiefe hinein zu verdichten? (Ein paar wichtige und zugleich populäre Forderungen der progressiven Agenda durchzubringen schließt das ja keinesfalls aus.)
Ein Bonmot von (ich glaube) Sunzi ist an der Stelle vielleicht nicht ganz verkehrt:
Wenn der Feind stark ist, dann ziehe dich zurück und überlasse ihm die Ebene. Ist er jedoch schwach und vereinzelt, dann schlage zu.
Ich schaue häufig Jimmy Dore auf Youtube. Er ist ein Komiker, aber sehr politisch. Er ist sicher oft polemisch und manchmal vulgär, aber ich halte ihn für absolut aufrichtig und mutig. Er hatte sich für #forcethevote eingesetzt, Inhalt dieser Initiative war es, die Mumie Nancy Pelosi nur dann zur Sprecherin des Repräsentantenhauses zu wählen, wenn sie öffentlich oder schriftlich zusichert, eine Abstimmung über "Medicare for All" zuzulassen. Damit hätten AOC und co. ihr Wahlversprechen eingelöst, und es wäre zumindest transparent geworden, wer sich ernsthaft dafür einsetzt.
Auch die von mir sehr geschätzten Chris Hedges und Richard Wolff argumentieren ähnlich.
Ich finde, Sie bzw. wir alle sollten wesentlich radikaler denken. Damit meine ich keine Gewalt, aber ein sehr konsequentes politisches Vorgehen. Wie oft schon haben sich Linke weltweit am Nasenring durch die Manege schleifen lassen, wie oft schon haben sich Leute kaufen oder von angeblichen Sachzwängen einschüchtern lassen?
Die überwältigende Mehrheit der Amerikaner ist für "Medicare for All". Das war lange nicht so, aber selbst die Amis haben das trotz aller Gegenpropaganda nun offenbar verstanden. Bernie Sanders hätte 2016, nachdem ihm vom DNC so übel mitgespielt wurde, mutig sein müssen und eine eigene Partei gründen sollen! Ich bin sicher, er wäre jetzt Präsident.
Ich bin gegen jede Form von Personenkult. Das einzig Entscheidende ist letztlich das politische Programm einer Partei, Bewegung oder sonstigen Gruppe von Menschen. Natürlich identifizieren sich Menschen auch immer mit einzelnen Protagonisten. Aber auch deren Macht muss immer eingehegt werden, und sie sind nur so lange Freunde, wie sie sich - in großen Teilen - am gemeinsam beschlossenen Programm orientieren. AOC und co. hielt ich anfangs für sehr sympathisch und authentisch. Sie sind es aber nicht mehr. Wenn ich - die sicherlich sehr attraktive - AOC heute anschaue und -höre, sehe ich nur noch eine affektierte Karrieristin. Und im Regierungshandeln der Biden-Demokraten sehe ich so gut wie nichts Progressives. Warum sollten die Wähler von AOC und co. also nochmal für diese stimmen bei der nächsten Wahl? Damit ist doch die Rückkehr von Trump (oder einem ähnlichen Kaliber) sehr wahrscheinlich.
Übrigens, anderes Thema: Richard Wolff erklärt so einfach wie bestechend, dass kein Weg an einer saftigen Vermögensbesteuerung vorbei führt. Denn ansonsten, bei einer immer größeren Staatsverschuldung ohne ausreichende Gegenfinanzierung, führt das zu immer mehr sozialer Ungleichheit. Und die Reichen, die ansonsten X Prozent an Steuern hätten abführen müssen, bekommen nun sogar noch X Prozent an Zinsgewinnen hinterhergeworfen für das Geld, das sich der Staat bei ihnen über Anleihen borgt.
@WuMing:
Das ist für mich auch ein wichtiges Argument gegen zu große Staatsverschuldung, worüber wir ja schon öfter diskutiert haben. Dazu würde mich Deine Meinung auch einmal interessieren:
Richard Wolff erklärt so einfach wie bestechend, dass kein Weg an einer saftigen Vermögensbesteuerung vorbei führt. Denn ansonsten, bei einer immer größeren Staatsverschuldung ohne ausreichende Gegenfinanzierung, führt das zu immer mehr sozialer Ungleichheit. Denn die Reichen, die ansonsten X Prozent an Steuern hätten abführen müssen, bekommen nun sogar noch X Prozent an Zinsgewinnen hinterhergeworfen für das Geld, das sich der Staat bei ihnen über Anleihen borgt.
»AOC und co. hielt ich anfangs für sehr sympathisch und authentisch. Sie sind es aber nicht mehr. (…)«
Es kann sein. Wie bereits gesagt, habe ich das in detaila die letzte Zeit nicht mehr verfolgt. Ich finde nur grundsätzlich, dass man gute Leute (und AOC zählt/e zu dieser Kategorie zweifelsohne) nicht gleich abschreiben sollte, nur weil mal zwei oder drei Dinge nicht rund laufen. Konkret: Sicher ist Kritik bei Fehlentscheidungen angebracht, aber mir persönlich ist der Duktus im Beitrag von Miss Lennard doch ein Tick zu überdreht.
Mit Gewinn zu konsultieren sind natürlich auch die im Kommentarteil erwähnten Journalisten, Künstler und Autoren. Mit Chris Hedges habe ich es vorgestern versucht. Auch wenn ich nicht mit allem d’accord gehe, fand ich seine Einschätzung durchaus nachdenkenswert. Biden wird sicher keinen Sozialismus bringen oder auch nur einen GND. Die Chose allerdings ist die, dass Veränderungen selten nach Konzept Reißbrett verlaufen. Weswegen ich denke, dass die Entwicklung in den USA auch künftig unterschiedliche Formen von Überraschung parat haben wird.
"Die Arbeiterklasse ist besser damit bedient, ihre guten Leute zu halten und mit diesen zusammen die weitere Richtung finezutunen. Alarmismus und Fundamentalkritik hingegen haben der Linken bislang in den seltensten Fällen geholfen."
Sehr richtig. Es ist eine der großen Leistungen von Sanders, einer ganzen Reihe von tüchtigen Leuten - AOC gehört auch dazu - zu Mandaten verholfen zu haben. Auf denen ruht heute die ganze Hoffnung. Die Aktivisten bekommen keine praktische Politik gebacken, sondern allenfalls Unterhaltungserfolge in den MSM.
AOC und die Squad sind Abgeordnete, keine Kinder, die wir immer wohlwollend begleiten sollten. Wenn sie wirklich zu naiv sind für den Job, sind sie fehl am Platze.
https://www.youtube.com/watch?v=pUMMmF98S8w
Dass die Entwicklung in den USA auch künftig unterschiedliche Formen von Überraschung parat haben wird, glaube ich indes auch.
Ich lese in den Artikel von Natasha Kennard kein AOC-Bashing hinein, wohl ist dies aber aus mindestens zwei Kommentaren hier leicht zu entnehmen, so von wegen (ich fasse zusammen) 'hübsche korrupte Karrieristin'. Belege für diese Vorwürfe bleiben die betr. Foristen aber schuldig. An anderer Stelle ist dann noch "Vergeßt Europa/die USA" zu lesen. Na ja, alte Rechtschreibung, vor allem aber eine etwas merkwürdige Sicht auf die Dinge: Dass ein Kontinent alles reißen könnte, ist kaum zu erwarten, das wäre dann auch eine recht paternalistische Kiste, so à la "Biden/von der Leyen/... müsste das zur Chefsache machen". Jetzt gewissermaßen aus Enttäuschung darüber, dass dies so nicht zu erwarten ist, gleich wieder die gesamte Bevölkerung eines Kontinents als möglichen Akteur abzuschreiben, ist hinwiederum auch nicht sinnvoll. Gibt es da nicht einen Slogan, der Gleichgesinnte von überall zur Initiative auffordert?
Ich lese in den Artikel von Natasha Kennard kein AOC-Bashing hinein, wohl ist dies aber aus mindestens zwei Kommentaren hier leicht zu entnehmen, so von wegen (ich fasse zusammen) 'hübsche korrupte Karrieristin'. Belege für diese Vorwürfe bleiben die betr. Foristen aber schuldig. An anderer Stelle ist dann noch "Vergeßt Europa/die USA" zu lesen. Na ja, alte Rechtschreibung, vor allem aber eine etwas merkwürdige Sicht auf die Dinge: Dass ein Kontinent alles reißen könnte, ist kaum zu erwarten, das wäre dann auch eine recht paternalistische Kiste, so à la "Biden/von der Leyen/... müsste das zur Chefsache machen". Jetzt gewissermaßen aus Enttäuschung darüber, dass dies so nicht zu erwarten ist, gleich wieder die gesamte Bevölkerung eines Kontinents als möglichen Akteur abzuschreiben, ist hinwiederum auch nicht sinnvoll. Gibt es da nicht einen Slogan, der Gleichgesinnte von überall zur Initiative auffordert?
Ich finde das Aufmacherfoto (auch wieder) ziemlich reißerisch: Es wird so ein Bild mit geschlossenen Augen und offenem Mund von AOC gebraucht, um ihren 'Frust' zu illustrieren. Ja, springer könnte es kaum besser.
https://www.youtube.com/watch?v=gt6TCPfFQT8