Auf zwei Seiten (Freitag, 4. 1. und 11. 1. 2002) sinnierte Michael Jäger über das amerikanisch-europäische Verhältnis nach dem 11. September und kam zu einem deutlichen Fazit: Die Europäer dürfen sich auf keinen Fall in eine Konfrontation mit den USA treiben lassen. Sie müssen in der NATO bleiben und Solidarität auch mit der Bush-Administration üben, weil nur so die Chance besteht, "das, was der Verbündete verblendet zuspitzt, offen zu kritisieren. Darin unsere gemeinsame Verblendung kritisch aufzulösen." Jäger sagt: Europäer und Amerikaner säßen im selben Boot, und die Europäer würden genau so wie die Amerikaner reagieren, wenn sie getroffen wären und "über so viele Waffen verfügten wie die
Abfang-Jäger überm Wellengrab
Das Europäisch-Amerikanische Verhältnis nach dem 11. September (I) Mythen und Legenden
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;gten wie die Amerikaner".Michael Jägers Argumentation klingt wie ein "Persilschein" für die rot-grüne Außenpolitik nach dem 11. September, die sich von jeder anderen in diesem Punkt ja kaum unterscheidet. Mitmachen, um Schlimmeres zu verhindern. Aber auch, weil die europäischen und nordamerikanischen Eliten - "im günstigsten Fall" - nur "gemeinsam (versuchen können) aus der ungerechten kapitalistischen Ordnung auszusteigen". Das sind verwegene Begründungen für einige realpolitisch richtige Schlussfolgerungen. Und weil sie so verwegen sind, hat Michael Jäger über das Bekenntnis zu NATO-Bündnis und Solidarität hinaus, neben der Heilserwartung des "günstigen Falls", auch wenig anzubieten. Dabei will er überzeugen. Aber wen? Wahrscheinlich sich selbst. Die "Radikalen" jedenfalls, von denen er spricht, werden ihm auch mit Lenin und dem absurden Gespenst eines möglichen Krieges zwischen der EU und den USA nicht ins solidarische Bündnisboot folgen wollen. Und der "Rest" sagt eher: "So what?", oder "Welcome to the club!"Die NATO als Rückversicherungsgarantie, damit sich die EU - samt ihren beiden Atommächten Großbritannien und Frankreich - angesichts wachsender Interessenkonkurrenz mit den USA nicht plötzlich als "Schurkenkontinent" wiederfindet - aller spätestens dann, wenn sich die Europäer allein auf den Weg aus dem "imperialen Kapitalismus" machen würden? Wenn die EU je soweit sein sollte, steht die NATO lange schon nur noch in den Geschichtsbüchern. Bis dahin aber lahmt die These ganz gewaltig.Die Europäische Union ist kein monolithisches Gebilde. Die Differenzen innerhalb der EU werden nach der Osterweiterung eher stärker als schwächer. Schon heute schwinden die Kohäsionskräfte, je weiter man sich vom Kern auf die Ränder zubewegt. Als Wirtschaftsraum wird die vergrößerte EU mittelfristig an Bedeutung gewinnen. Aber zu meinen, dass damit die Tendenz steigen könnte, sich von "ungerechter Wirtschaftsordnung" oder "imperialem Kapitalismus" zu lösen, blendet osteuropäische Verhältnisse völlig aus. Das Gegenteil ist wahrscheinlicher.Historischer Unsinn Auch außen- und sicherheitspolitisch weisen die Zeichen der Zeit eher in eine andere Richtung. Der 11. September hat die Europäer - entgegen aller Rhetorik - nicht enger zusammenrücken lassen. Statt dessen erleben wir eine Re-Nationalisierung dieses Teils der transatlantischen Beziehungen, einen nationalen Wettlauf um möglichst engen Schulterschluss mit den USA. Und der geht in jedem Fall auf Kosten gesamteuropäischer Optionen - also auch auf die von Jäger aus dem Nichts an die Wand gezauberte Option eines "Schurkenkontinents".Nun zu Amerika. Die Neue Welt erklärt uns Jäger mit Moltmann und "Moby Dick". Wir haben die Wahl. Wir können Amerika verstehen aus dem messianischen Anspruch einer sich christlich nennenden Politik, die das Christentum pervertiert und den Gegner als "das Böse" nicht nur schlagen, sondern auch vernichten muss. "Kriegsgegner können hinterher nicht zu Freunden werden, wie es in der klassischen europäischen Diplomatie der Fall gewesen war, weil sie ... dem auserwählten Amerika gegenüber ein für alle Mal als Kriminelle dastehen". Was für ein historischer Unsinn aus der Feder eines deutschen Linken im Jahre 57 nach Hitler! Oder waren Deutschland und Japan keine Kriegsgegner der USA? Selbst mit dem "kommunistischen" Vietnam hat die offizielle Aussöhnung längst begonnen. Michael Jäger hört sich hier an wie Henry Kissinger. Auch der argumentiert, dass Amerika aufgrund seiner besonderen Verfasstheit eigentlich unfähig sei, sich an den Ränkespielen typisch europäischer Machtpolitik mit ihren wechselnden Freund-Feind-Allianzen zu beteiligen. Kissinger meint das natürlich positiv - und ist als skrupelloser Realpolitiker geradezu die Inkarnation des Gegenbeweises.Wir können amerikanische Politik mit Jäger aber auch als " ein ganz und gar nihilistisches Experiment", als einen nihilistischen "Exodus" interpretieren, der einfach darin besteht, "jede jemals gegebene Schranke um jeden, aber auch jeden Preis übersteigen zu wollen." - und entdecken darin unseren eigenen Nihilismus, dessen Ziel mit dem Sprung ins All zudem ganz ziellos geworden sei. Und weil die amerikanische Überspitzung nur auf den gemeinsamen kulturellen Eisberg verweise, wäre jede Abgrenzung verlogen. Deshalb "müssen wir uns mit den USA solidarisch erklären" - um am Ende gemeinsam Schlimmeres zu verhüten.Fazit: Wir Europäer sind zwar eigentlich nicht besser, weil wir ja mit derselben "nihilistischen Wut" reagieren würden, wenn wir könnten. Aber irgendwie scheinen wir es dann doch zu sein. "Jedenfalls", so Jäger, "in normalen, nichttotalitären Zeiten". Das ist vielleicht der springender Punkt. Denn: Totalitarismus ist eine europäische Erfahrung, keine amerikanische. Der Fortschrittsoptimismus der europäischen Aufklärung wurde in Europaim Gefolge zweier mörderischer Weltkriege auf totalitäre Art gebrochen. Deshalb sind die Europäer zu einem Skeptizismus fähig, der den meisten Amerikanern fremd ist. Auch die USA haben Kriege geführt - nach 1945 sogar am häufigsten, darunter viele schmutzige. Aber geschichtliche Brüche, die mit den europäischen vergleichbar wären, haben sie nicht erlebt, zumindest nicht in den vergangenen 137 Jahren. Totalitäre Ideologien besaßen in der amerikanischen politischen Kultur nie eine Chance.Verschiedene Welten Natürlich haben Alte und Neue Welt gemeinsame Wurzeln und Werte. Aber es sind eben doch zwei verschiedene Welten mit kulturellen Unterschieden in nahezu allen gesellschaftlichen Sphären, die weit über das Bild von der Spitze eines gemeinsamen Eisbergs hinaus gehen. Was Michael Jäger einen "Auszug ganz nihilistischer Art" nennt, der "jede Schranke um jeden Preis" überschreiten will, ist in Wahrheit ein in Amerika weitgehend ungebrochener Fortschrittsglaube, der uns Europäern unzeitgemäß und unreflektiert erscheint. Ein Fortschrittsglaube, der, wenn er sich missionarisch nach außen wendet, immer wieder nackter Imperialismus zu werden droht oder einfach nacktes, in schöne Worte verpacktes Interesse. So gesehen ist Jägers Nihilismus-These, seine europäisch-pessimistische Sicht auf Kennedys new frontier, auf den "Weg in den Weltraum", nur konsequent. Als Basis für ein neues europäisch-amerikanisches Verhältnis aber taugt sie nicht, weil sich in ihr eine tiefe Skepsis gegenüber der Idee stetigen menschlichen Fortschritts spiegelt. Und diese Skepsis ist eine europäische Erfahrung, mit der Amerikaner wenig anfangen können.Die amerikanische Gründungsideologie - "life, liberty and the pursuit of happiness" (Thomas Jefferson) - ist von einem gewaltigen Fortschrittsidealismus durchdrungen, der als American Dream bis heute - trotz aller individueller wie kollektiver Negativerfahrung - das öffentliche Bewusstsein in den USA bestimmt. Verbunden mit einem nüchternen Pragmatismus und eingebettet in eine tief verwurzelte Spiritualität, prägt er nicht nur tägliches Leben, sondern ganz maßgeblich auch die Innen- und Außenpolitik der Vereinigten Staaten.Sicher lässt sich der Aufstieg Amerikas zur imperialen und heute stärksten Wirtschafts- und Militärmacht der Welt nicht allein aus dieser besonderen "kulturellen Grundierung" heraus erklären. Aber ohne sie eben auch nicht. Die Frage nach dem europäisch-amerikanischen Verhältnis ist daher nicht nur eine nach gemeinsamen kulturellen Wurzeln, gemeinsamen Werten und gemeinsamer Hybris. Sie braucht - vor allem bei der Suche nach Alternativen - den Verweis auf Besonderheiten, Unterschiede und die je anderen Stärken und Schwächen auf beiden Seiten des Atlantik.Transatlantische Mythen Das transatlantische Verhältnis lebt. Es lebt aber auch von Mythen. Ein solcher Mythos ist die Verkürzung dieses Verhältnisses auf die NATO. So wichtig das Militärbündnis für die Verteidigung und Verflechtung Westeuropas und der USA während des Kalten Krieges auch war, seine strategische Gründungsmission (keep the Russians out, the Americans in, the Germans down) hat sich nach dem Fall der Mauer erledigt. Moskau stellt keine Bedrohung mehr da, Deutschland ist sowohl europäisch als auch transatlantisch fest verankert und die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verflechtungen zwischen Europa und den USA sind so zahlreich, intensiv und alltäglich, dass die Atlantikbrücke inzwischen auch ohne militärischen Pfeiler sicher steht. Deshalb muss die NATO nicht überflüssig sein. Als euro-amerikanische Rückversicherungspolice aber ist sie es - und außerdem zu teuer.Militärischen Sinn hat die NATO, wenn überhaupt, nur im Rahmen ihrer 1999 verabschiedeten Strategie der doppelten Erweiterung - als global intervenierendes Bündnis und als Sicherheitsarchitektur in einem ebenso schwammig wie weit gefassten "euro-atlantischen Raum". Zur globalen Intervention aber sieht sich die NATO als Allianz derzeit nicht in der Lage. Das liegt vor allem an den Europäern, die von den USA in nahezu allen Bereichen moderner Kriegführung soweit hinter sich gelassen wurden, dass praktisch nur noch wenig zusammen passt. Es geht also gar nicht darum, ob die Partner das NATO-Bündnis auflösen. Als global intervenierende Allianz löst sie sich de facto "von selbst" auf, wenn die Europäer nicht massiv und schnell in neue, global ausgerichtete Kriegsführungsfähigkeit investieren. Eine ganz andere Sache ist, ob sie das wollen und sollen. Deshalb kann man den Spieß auch umdrehen und fragen, ob nicht die USA gerade dabei sind, die sogenannte Neue NATO "aufzulösen", indem sie auf ihrer unilateralen Interventionsfähigkeit beharren und die Nordatlantische Allianz damit zu einem besseren Forum globaler Koalitionsbildung umfunktionieren nach dem Motto: Wer kann und will macht mit, wer nicht, lässt es bleiben - und trägt die Folgen. Siehe Afghanistan.Strategische Überdehnung Folgt die geographische Erweiterung nach Osten und Süden: Polen, Ungarn und Tschechien waren nur der erste Schritt. Demnächst stehen weitere Erweiterungsrunden an. Die baltischen Staaten, Slowenien, die Slowakei, aber auch Rumänien und Bulgarien werden als "heiße Kandidaten" gehandelt. Strategisch ergibt die Ausdehnung ins Baltikum wenig Sinn, es sei denn man unterstellt den Planern in Brüssel und Washington, sie seien nach wie vor auf Moskau als potenziellen Hauptfeind fixiert. Ganz frei ist man dort davon sicher noch nicht, aber hier spielen primär politische, historische und ideologische Faktoren eine Rolle. Wer Polen aufnimmt, um die marktwirtschaftlich-demokratische Entwicklung zu stabilisieren und historischen Sicherheitsängsten Rechnung zu tragen, wird sich dem gleichen Wunsch der baltischen Staaten nicht verweigern können. Bulgarien und Rumänien dagegen haben vor allem das strategische Moment auf ihrer Seite. Dazu genügt ein Blick auf die Landkarte und in die neue NATO-Strategie mit ihrem globalen Interventions-Ansatz und dem nach Süden und Südosten verschobenen Fokus potenzieller Krisenherde.Verständlich, dass sich hier aus russischer Perspektive das Horrorszenario einer strategischen Umklammerung zusammenbraut. Der alte Feind nähert sich von allen Seiten. Hinzu kommen die (hoffnungslosen) Beitrittswünsche ehemaliger Sowjetrepubliken wie Georgien, Usbekistan und Aserbaidschan. Außerdem setzen sich die Amerikaner - nicht im Rahmen der NATO-Erweiterung, sondern im Zuge des "Anti-Terror-Krieges" - militärisch gerade in Mittelasien fest. Für Moskau ist das immerhin Nahes Ausland und strategisch nicht unbedeutend, wiewohl - auch von Michal Jäger - gewaltig überschätzt. Der Kaspische Raum wird auch in Zukunft trotz seines Öl- und Gasreichtums (dessen Umfang und Wirtschaftlichkeit umstritten bleiben) nicht jene herausragende Bedeutung genießen wie heute die nahöstliche und Golfregion. Konkurrenz besteht ganz sicher. Die historischen und politischen Konfliktpotenziale jedoch sind weder vergleichbar noch in gleichem Maße instrumentalisierbar. Deshalb wird es am Ende global-strategisch weniger bedeutend sein, wer mit welcher Trassenführung das Rennen macht. Hauptsache die Rohstoffe fließen - vorzugsweise nach Westen - zu einem kalkulierbaren Preis. Und das werden sie, wenn es sich rechnet.Aus russischer Sicht hingegen sieht diese Entwicklung viel dramatischer aus. Das zwingt die NATO zu einer stärkeren Annäherung. Tony Blairs Initiative vom vergangenen Herbst, den 1997 eingerichteten NATO-Russland-Rat zu einem Sicherheitsforum aufzuwerten, das sich den Herausforderungen des 11. September stellt, weist in diese Richtung. Sofort wurden warnende Stimmen laut, dies sei der erste Schritt zu einer NATO-Mitgliedschaft Russlands. Damit aber würde sich die Allianz überheben und zu einer besseren OSZE "degenerieren". Eine "Warnung", die aufhören lassen sollte.In der nächsten Ausgabe folgt: "Das europäisch-amerikanische Verhältnis nach dem 11. September: Selbstbewusstsein statt ängstlicher Solidarität".
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