Derzeit Zeit beläuft sich die deutsche Entwicklungshilfe für Afghanistan auf bescheidene 2,5 Millionen Mark im Jahr: zwei Millionen vom Auswärtigen Amt für Minenräumung, eine halbe Million vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) als Beitrag zur Welthungerhilfe. Das reicht für 460 Tonnen Weizen, 90 Tonnen Bohnen und 50 Tonnen Speiseöl. Der Grundbedarf 15.000 afghanischer Familien für vier Monate - die Bedürftigsten der Bedürftigen in Kabul, wo mehr als eine Million Menschen auf fremde Hilfe angewiesen sind.
In der afghanischen Hauptstadt entsteht zuweilen der Eindruck, zwei Jahrzehnte Bürgerkrieg hätten ihr doch nicht soviel anhaben können, wie gemeinhin geglaubt wird. In der Altstadt stehen die Karatschis, die Schiebekarren der ambulanten Straßenhändler, in Viererreihen. Berge schwarzer, brauner und grüner Rosinen, getrockneter Maulbeeren und Mandeln werden feilgeboten. Rot leuchten Granatäpfel, und grün die Stapel frischen Zwiebellauchs. Wespen umschwärmen aufgeschnittene Zuckermelonen. Zischend backen Teigkringel und Pommes frites - hier Chips genannt - in Öl. Kupferkessel leuchten in der Nachmittagssonne.
Ein gebeugter Paschtunen-Greis mit mächtiger Nase, schwarz-silbernem Turban, Gummilatschen und viel zu großen grünen Wollsocken beäugt kritisch einen schmutzigen Jungen, der Gemüse verkauft. "Bei mir gibt es alles", schreit ein Hazara mit mongolischen Gesichtszügen, der bunte Plastikkämme, Dosen für Schnupftabak und Amulette verkaufen will. Über allem liegt ein schwerer bläulicher Dunst, der vor allem den gelb-weißen Taxis zu verdanken ist, die ungefiltert ihren Ruß in die Luft blasen.
Doch diese orientalische Betriebsamkeit geht jäh in einen Orkus des Verderbens
über - keine 20 Meter hinter dem Basar breiten sich die Ruinenfelder einer verheerten Stadt und wollen kein Ende finden. Entlang der schnurgeraden Maiwand-Straße - einst von den Bulldozzern eines heute als liberal geltenden Premierministers wie eine Schneise des Aufbruchs durch den Jahrhunderte alten Marktflecken geschlagen - streckt sich eine Trümmerlandschaft, die an Bilder Berlins vom April 1945 erinnert.
Auf diesem Boulevard tobten 1995 die grausamsten Kämpfe, die es während des nun schon über 20 Jahre währenden Krieges gab. Von der Schlacht der Tanzimat - der verfeindeten "Organisationen" der Mudschahedin - sprechen die Kabulis noch heute mit Grauen. Man kämpfte um die Macht in der Stadt, die mit keinem der vormaligen Verbündeten geteilt werden sollte.
Wer heute auf dieser Trasse unterwegs ist, kann bald ersehen, wie die Jahre einer afghanischen Selbstzerfleischung auch dem Kleinhandel jeden Hauch von Exotik nehmen. Viele Kabuler verkaufen alles, was sie entbehren können: gebrauchte Kleider und Haushaltsgegenstände, Metallteile, von denen sie hoffen, dass irgendjemand sie brauchen kann. Kinder, die noch nicht im Schulalter zu sein scheinen - viele sehen durch die Mangelernährung jünger aus, als sie tatsächlich sind - sammeln Holz, Strohreste und Papierabfälle als Brennmaterial. Ein winziges Geschwisterpaar mit staubigen, zerzausten Haaren und pechschwarzen Kajalrändern um die Augen zieht einen löchrigen Sack mit Metallresten hinter sich her. Nachschub für die Schrottschmelzen im benachbarten Pakistan.
Abgefackelte Baumstämme säumen die Straße, auf der vereinzelt Fahrradfahrer einem tristen Feierabend zustreben. Es gibt keinen nationalen Fernsehkanal, keine Restaurants, die den Namen verdient hätten, keine Kinos. Vom Filmtheater "Barikot", in dem früher die beliebten Hindi-Filme mit ihren buntgekleideten indischen Tänzerinnen und einer süßlichen Schlangenmusik liefen (Waffen mussten an der Garderobe abgegeben werden), ist nur ein Torso geblieben. Hier begannen die Taleban ihren Kulturkampf, als sie im Herbst 1996 Kabul eingenommen hatten: Erst warfen sie die Rollen mit dem von ihnen als dekadent verschrieenen Zelluloid in den Straßenstaub, dann zündeten sie ihn an und fuhren schließlich mit Panzern darüber.
Inzwischen aber scheinen die "Koranstudenten" einfach nicht mehr in der Lage zu sein, ihre wahnwitzigen Dekrete flächendeckend zu kontrollieren. Trotz Verbots werden auf dem Basar wieder Singvögel verkauft. Trotz Verbots steigen Drachen aus den von Lehmmauern umfriedeten Schutthalden, in denen Menschen wie Lemuren leben (die Drachen sind nicht bunt wie noch vor Jahren, sondern aus farblosen Plastiktüten gebastelt). Trotz Verbots treffen sich Jugendliche am Sonntag auf der früheren Festwiese zum Volleyball und verzichten dabei auf die vorgeschriebene Kopfbedeckung. Selbst einige Frauen dürfen inzwischen wieder arbeiten, nicht nur im Gesundheitswesen - mit Genehmigung oder zumindest Duldung der Gotteskrieger.
Ganz offensichtlich kann das Regime seinen "totalitären" Anspruch nicht mehr so durchsetzen wie in den ersten Monaten nach Einnahme der Stadt. Schon an der Peripherie Kabuls heißt es auf die Frage, ob die Taleban auch dort versucht hätten, Demonstrationen gegen die UN-Sanktionen zu organisieren: "Wir sind doch keine Schafe." Allerdings: Offenen Widerstand wagt (noch?) niemand.
Dieser Trotz resultiert nicht zuletzt aus jenem unerbittlichen Überlebenskampf, den die Mehrheit der anderthalb Millionen Kabulis täglich führen muss. Wer Arbeit hat, meist beim Staat, erhält umgerechnet drei Dollar im Monat. Das reicht nicht einmal, um eine Durchschnittsfamilie mit Brot zu versorgen. Und wer hat schon eine solche Arbeit? Gerade im Winter rangeln viele Erwerbslose um Tagesjobs auf dem Basar und drücken damit den Preis ihrer Arbeit. Kinder- und - trotz des Generalverbots - Frauenarbeit sichert wenigstens ein Minimaleinkommen. Zu 20 Prozent tragen Frauen und Kinder nach einer - nicht repräsentativen - Studie in Kabul ansässiger NGO inzwischen zum Einkommen "verwundbarer Familien" bei, wie es im Entwicklungshelfer-Jargon heißt: Gemeint sind Haushalte von Witwen oder mit krankem männlichen Oberhaupt, von Binnenflüchtlingen oder Angehörigen von Minderheiten.
"Afghanistan ist am Ende", flucht Said, der sich als Tagelöhner auf dem Baugerüst eines Bankgebäude durchschlägt. Doch sofort stoppt ein Kollege den Übermut des Mannes mit der scharfen Nase und der wilden schwarzen Mähne. Zu viele Ohren, bedeutet seine Geste, bevor er Tee nachschenkt, den sich die Bauarbeiter nach Feierabend gönnen.
Anfangs hatte die Bevölkerung Kabuls den Taleban durchaus Sympathien entgegengebracht. Sie versprachen "unter dem Banner einer authentischen islamischen Ordnung", mit dem Krieg, den Morden und Vergewaltigungen durch die Mudschahedin-Gruppen aufzuräumen. Aber die sakrosankten Saubermänner haben ihren Kredit längst verspielt. Dass auch in ihrer Administration nichts ohne Schmiergelder geht, kann man an jeder Straßenecke erfahren. Nicht zufällig musste Mullah Omar, ihr geistliches Oberhaupt, vor wenigen Wochen ein Dekret erlassen, dass bei Korruption sechs Jahre Gefängnis androht. Einen bestechlichen Richter soll Omar sogar eigenhändig erschossen haben, wird erzählt. Ein afghanischer Ingenieur, der sich heute als Taxifahrer durchschlägt, meint, viele Taleban-Führer seien direkt am einkömmlichen Transithandel mit Autos und anderen Luxusgütern aus den Golfemiraten über Afghanistan nach Pakistan beteiligt. Ihre eigenen moralischen Gebote würden sie immer häufiger übertreten. Heimlich ließen sich Taleban, die Villen im früheren Kabuler Botschaftsviertel Wazir Akbar Khan übernommen hätten, gegen ein gutes Handgeld Satelliten-Antennen installieren, erzählt ein Buchhändler und fährt fort, "sicher kann ich jetzt mit viel Geld in der Tasche ungefährdet den Basar durchqueren. Aber ist das alles? Wir wollen auch frei unsere Meinung äußern können. Wir wissen ja von unserem Präsidenten (gemeint ist Mullah Omar - T.R.) nicht einmal, woher er kommt und ob er Abitur hat oder nicht."
Noch immer sind Patrouillen des Amr bi-l-Maaruf, wie die nach saudischem Vorbild eingerichtete Religionspolizei "zur Förderung der Tugend und zur Bekämpfung des Lasters" kurz genannt wird, unterwegs, um männliche Passanten wegen zu kurzer Bärte oder Frauen wegen "unzureichender Kleidung" zu ermahnen oder gegebenenfalls zu bestrafen. Jeden Mittag gegen ein Uhr gehen in Kabuls Kebab-Häusern die Lichter aus. Zeit zum obligatorischen Mittagsgebet, das die Taleban angeordnet haben, um Kabuls Erde vom Unglauben zu reinigen. Inhabern von Restaurants, die sich nicht daran halten, droht eine mehrtägige Schließung. Geschäftsleute müssen die Eisengitter vor ihren Läden herunterlassen. Auf der Pul-e-Cheschti-Straße fährt behäbig ein Lautsprecherwagen der Taleban, der alle Passanten verwarnt, die erkennbar nicht in Richtung Moschee gehen.
Doch sobald das Gefährt auftaucht, entwischen Dutzende in sichere Seitengassen oder verschwinden in den Refugien der Trümmerwelt ringsherum. Nach dreieinhalb Jahren Taleban-Diktatur - zu religiösen Fanatikern haben sich die meisten Afghanen nicht umerziehen lassen.
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