Ablass mit Doppelnaht

NS-ZWANGSARBEITER Entrechtung statt Rechtssicherheit - Das lässt sich die deutsche Wirtschaft mehrmals schriftlich geben

Der Brockhaus bezeichnet Rechtssicherheit als "ein wesentliches Kennzeichen eines Rechtsstaates". Dieser garantiere "die gleiche rechtliche Wertung gleichartiger Einzelfälle ... sowie das Vertrauen darauf, dass eine von den Gerichten getroffene Entscheidung durchgesetzt wird". "Rechtssicherheit" war in den langwierigen Auseinandersetzungen um Entschädigung für Zwangsarbeit die entscheidende Forderung der deutschen Seite, an der sie die Verhandlungen scheitern zu lassen drohte. Im Gegensatz zur Definition des Brockhaus bedeutet "Rechtssicherheit" für die deutsche Wirtschaft allerdings, eine Gerichtsentscheidung mit allen Mitteln zu verhindern.

Gemeinsam mit dem Staat Bundesrepublik Deutschland (als Rechtsnachfolger des Deutsches Reiches) will sie unbedingt vermeiden, dass ihre rechtliche oder politische Verantwortung für das vom Nürnberger Internationalen Militärtribunal als Verbrechen gegen die Menschheit verurteilte Zwangsarbeitssystem von einer unabhängigen Justiz überprüft wird. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft erklärt in ihrer Selbstdarstellung ultimativ: "Unabdingbare Voraussetzung für die Gründung der Stiftung und die Bereitstellung der Mittel ist, dass für die Unternehmen umfassende und dauerhafte Rechtssicherheit geschaffen ist, d. h. dass sie vor gerichtlicher Inanspruchnahme geschützt sind. In diesem Sinne soll die Stiftung dauerhaften Rechtsfrieden fördern."

Die Stiftungsinitiative erklärt sich nur dazu bereit, "als Geste der Versöhnung Mittel in eine humanitäre Stiftung einzubringen", um ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, "die besondere Härten erlitten hatten, zu helfen". Voraussetzung für die Bereitstellung dieser Almosen für einige Überlebende ist allerdings, dass allen ZwangsarbeiterInnen endgültig die Möglichkeit genommen wird, ihre Ansprüche auf Entschädigung vor Gericht geltend zu machen.

Im Gesetz zur Gründung der Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", die die Entschädigung der ZwangsarbeiterInnen übernehmen wird, soll festgeschrieben werden, dass deren Ansprüche keineswegs berechtigt sind:

"Nach Auffassung der Bundesregierung sind die derzeit gegen sie und deutsche Kommunen geltend gemachten Forderungen nicht begründet. Die Wiedergutmachungsgesetze der Bundesrepublik Deutschland sehen einen Entschädigungsanspruch wegen Zwangsarbeit nicht vor. Nach Auffassung der Unternehmen können auch keine Ansprüche gegen sie geltend gemacht werden. Bislang ist keine rechtskräftige Entscheidung bekannt, die den Anspruch eines Zwangsarbeiters für begründet erachtet. Mehrere Klagen wurden bereits abgewiesen. Dennoch gibt es eine Vielzahl von Klagen vor deutschen und ausländischen Gerichten. Deshalb besteht ein dringendes Interesse, dass die Unbegründetheit weitergehender Forderungen gesetzlich festgestellt wird."

Den ehemaligen ZwangsarbeiterInnen wird im Gesetzentwurf die Rolle von Almosenempfängern zugewiesen. Von Rechten der Überlebenden ist darin keine Rede - ihnen können allenfalls "Leistungen gewährt" werden. Mit dem Gesetz werde "eine abschließende Regelung für Ansprüche wegen Zwangsarbeit" geschaffen: "Etwaige weitergehende Ansprüche (...) sind ausgeschlossen". Die - angeblich völlig unbegründeten - Ansprüche der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen auf Entschädigung werden allerdings so ernst genommen, dass im Gesetz noch eine weitere Absicherung dagegen eingebaut wurde - doppelt genäht hält besser:

"Jeder Leistungsberechtigte gibt im Antragsverfahren eine Erklärung ab, dass er mit Erhalt einer Leistung nach diesem Gesetz auf jede darüber hinausgehende Geltendmachung von Forderungen gegen die öffentliche Hand für Zwangsarbeit und für Vermögensschäden sowie auf alle Ansprüche gegen deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Unrecht unwiderruflich verzichtet."

"Rechtssicherheit" bedeutet also die endgültige Rechtlosstellung aller ZwangsarbeiterInnen, während die Rechtsnachfolger der damaligen TäterInnen vor jeglicher rechtlicher Überprüfung ihrer Verantwortung geschützt werden. Die Überlebenden können sicher sein, dass sie allenfalls das Recht haben, gegenüber der Stiftung als Bittsteller aufzutreten. Die deutsche Wirtschaft und die deutsche Regierung wollen sicher sein, dass sie sich ihrer Verantwortung endgültig entledigen können - gegen die Zahlung einer bestimmten Summe als Ablass für die "Verfehlungen" in der NS-Zeit.

Innenpolitisch ist dieses Verständnis von Rechtsstaatlichkeit weitgehend konsensfähig - der entsprechende Gesetzentwurf wurde von allen Bundestagsparteien gemeinsam eingebracht. Nun soll es weltweit durchgesetzt werden - exemplarisch gegenüber der bisher führenden Weltmacht USA.

Unsere Autoren sind Sprecher des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte. Lothar Evers war Mitglied der tschechischen Delegation bei den Entschädigungsverhandlungen mit der amerikanischen und deutschen Regierung.

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