Absatzschwierigkeiten

Alltag Ganz unten und dann auch noch verloren: der Lauffleck

Die eminente Unscheinbarkeit des Laufflecks zeigt sich in aller Schonungslosigkeit schon daran, dass kaum einer seinen Namen kennt. Was nicht in der Sprache ist, ist nicht in der Welt, sagt der Philosoph, und das ist leider eine recht zutreffende Aussage über die Situation des Laufflecks.

Was aber ist der Lauffleck? Die Mehrheit würde Absatz sagen. Der Lauffleck findet sich am Schuh, genauer: am Absatz, weshalb die meisten Leute ihn umstandslos und nichtsahnend, den Teil als Ganzes nehmend, dazu nobilitieren. Ins Bewusstsein tritt der Lauffleck überhaupt erst, wenn er fehlt. Dann muss der Schuh zum Schuster; und Schuhe müssen zum Schuster vor allem in den Übergangsjahreszeiten, also im Frühling und im Herbst, weil die Menschen dann verschiedene Paar Schuhe tragen und weil sie zumeist Halbschuhe tragen und nicht schwerstes Wintergestiefel oder leichtestes Sommergeschlapp, an dem der Schuster sowieso keine Arbeit hat. Es ist jetzt also Saison für den Schuster, was für den Lauffleck die Chance bedeuten sollte, durch massives Fehlen dringlich an seine Existenz zu erinnern. Die höchst repräsentative Nachfrage beim Schumachermeister fördert aber zutage, dass der Lauffleck in der geschäftsspezifischen Trias aus Bringen-Reparieren-Abholen wiederum unter den Verkaufstresen zu fallen droht: 85 Prozent der abgegebenen Schuhe laborieren am Absatz, aber nur ein Prozent mangelt es am Lauffleck.

Der Berliner Fotograf Oliver Schmidt, von dem die Bilder auf dieser Seite stammen, hat innerhalb seiner seit zehn Jahren andauernden Sammlertätigkeit gut 3.000 Laufflecke aufgefunden, teilweise fotografiert oder wie Insekten in Vitrinen ausgestellt. Durch die Anmut des Seriellen drängt so das Unscheinbare ans Licht, das selbst bei Wilhelm Genazino, einem literarischen Meister des Unbeachteten, keine Beachtung findet. Der Ich-Erzähler seines Romans Ein Regenschirm für diesen Tag arbeitet als Schuhtester, dessen Aufgabe darin besteht, neue Schuhe auszuprobieren und darüber Berichte zu verfassen, und wer, wenn nicht dieser Schuhtester, müsste dazu berufen sein, dem Lauffleck ein wenig Geltung zu verschaffen, zumal es bei Genazino immer auch ums Verlieren, ums Abhandenkommen geht. Aber, und das ist mit Blick auf die Lage des Laufflecks keine unwichtige Feststellung, das Verlorengehen von Dingen ist bei Genazino nicht selten ans Fallen gebunden, und so können dem Schuhtester zwar zwei Wattestäbchen ins Auge stechen oder ein Kaugummi, die unachtsamen Passanten entfallen sind, aber naturgemäß keine Laufflecke.

Denn der Lauffleck, und das sagt fast alles über ihn, ist immer schon ganz unten. Die Sohle des Schuhs, wenn überhaupt nur wenige Zentimeter über dem Boden, ist die Nachtseite der menschlichen Wahrnehmung. Nie dafür bestimmt, gesehen zu werden, weshalb es vorkommt, dass der Schumachermeister selbst die schönsten und teuersten Schuhe mit einer ordinären Gummisohle versehen muss, damit dem Kunden mehr Halt beim Laufen gegeben ist. Wie die Sohle ist der Lauffleck reiner Zweck. Häufig gesteckt, meist geklebt, manchmal genagelt, immer aus Gummi dient er der Schonung des Absatzes, ein Tätigkeitsfeld, das im Schumachermeistergewerbe mit dem schmucklosen Wort Abrieb bezeichnet wird. Zugespitzt könnte man sagen, der Lauffleck ist da, um zu verschwinden, allmählich, unbemerkt und leise. Nun gibt es aber auch den Moment, den man - insofern das langsame Sich-Abreiben als Pflichterfüllung, Dienst nach Vorschrift begriffen wird - als Aufbegehren oder zumindest Verweigerung auslegen kann: Der Lauffleck verabschiedet sich als ganzer. Er bleibt stecken in einer Ritze zwischen Kultur und Natur, dem schlecht verfugten Abstand zwischen zwei Gehsteigplatten, im Dickicht der Pflastersteine mittelalterlicher Altstädte oder dem Spalt zwischen zwei Holzplanken, wie sie auf Behelfsfußwegen an Baustellen zum Einsatz kommen. Und während der Träger des Absatzes, an dem der Lauffleck eben noch saß, diesen Moment des Verlusts kurz humpelnd quittiert, um seinen Gang dann fortzusetzen, kann der Lauffleck selbst in seiner eingeengten neuen Freiheit vom Nützlichsein nicht lassen: Er füllt die Lücke, in der er festklemmt. Und verhindert so, dass ein anderer Lauffleck hier verloren ginge.


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