Eine Welle sehr verschiedener Protestbewegungen zog dieses Jahr in Frankreich die Aufmerksamkeit auf sich. Die Unruhen in den Banlieues, Streiks und Proteste von Studenten. François Dubet liest sie vor allem als Ausdruck einer sich vertiefenden Kluft zwischen Jugend und Erwachsenengeneration.
FREITAG: Die Universität in Bordeaux wurde in den letzten drei Wochen immer wieder bestreikt. Grund war eine Hochschulreform, die so genannte "Loi Pécresse", die den Universitäten mehr Autonomie einräumt und das Einwerben von Drittmitteln aus der Wirtschaft begünstigt. Hat dies zu Diskussionen mit Ihren Studenten geführt?
FRANCOIS DUBET: Es gab zahlreiche und harte Auseinandersetzungen zwischen Lehrkräften und Studenten. Die Mobilisierung war alles andere als ein Vergnügen. Im Gegensatz zu den starken und sehr geschlossenen Bewegungen gegen die Abschaffung des Kündigungsschutzes von unter 26-Jährigen im letzten Jahr waren die Studenten höchst gespalten. Viele Studenten haben Angst vor einer Universitätsreform. Sie erwarten Unterstützung von der Universität für ihre ersten Schritte auf dem Arbeitsmarkt. Sie merken zwar, dass immer weniger Türen sich öffnen, lehnen aber dennoch Änderungen ab und nehmen eine Reform als eine Bedrohung wahr.
Immer wieder gehen die Studenten im "mal de vivre" auf die Straße: Ist das ein Zeichen politischen Engagements?
Es gibt eine Dualität zwischen der großen Menge der Studenten, die sich um ihre Zukunft sorgen, und engagierten Studenten, die sich mit den Linken und Ultralinken identifizieren und politische Ziele haben. Da zeigt sich in meinen Augen nichts Neues.
Was sich klarer abzeichnet, sind die Sorgen dieser Jugend - Studenten oder nicht. Dieses Gefühl, dass die französische Gesellschaft sie zur Seite rückt. Es wird immer schwieriger, Arbeit zu finden, die Abschlüsse verlieren an Wert und soziale Aufstiege scheinen gefährdet. Diese Generation fühlt sich von der Gesellschaft nicht aufgenommen. Daher die schwelende Unzufriedenheit der Jugend, an der Universität. Und - so unterschiedlich die Lage ist - auch in den Vororten.
Würden Sie von einem Generationenphänomen sprechen?
Ja. Allmählich wird sich die Jugend in Frankreich bewusst, dass sie um einen Platz in der Gesellschaft kämpfen muss. Seit langem findet der soziale Interessenausgleich in der französischen Gesellschaft auf Kosten der Jugend statt. Sie haben Schwierigkeiten, Arbeit oder Wohnung zu bekommen und sind deshalb länger von Älteren abhängig. Langsam bildet sich ein diffuses Bewusstsein darüber aus, sowohl bei den Jugendlichen in Problemvierteln als auch bei den Studenten an den Universitäten. Die Protestbewegungen der einen haben mit den anderen jedoch nichts gemeinsam.
Inwieweit erinnern die aktuellen Protestbewegungen in Frankreich an die Ereignisse vom Mai ´68?
Vergleichbar mit 1968 ist die Empfindung einer Altersgruppe, dass eine tiefe Kluft zwischen Erwachsenen und Jugendlichen besteht. Die Jugend fühlt sich nicht in die Gesellschaft integriert. Vergleichbar ist auch der Verdruss über Professoren, Polizisten oder auch dem Präsidenten der Republik, der offensichtlich gegen die Jugend ist.
Was aber von 1968 völlig verschieden ist, ist die Einstellung der Jugend zur Zukunft. Im Mai ´68 hatte die Jugend das Gefühl, dass sie die Zukunft der Gesellschaft sei, dass sie sich von den Akteuren der alten Welt befreien müsse. Heutzutage herrscht ein entgegengesetztes Gefühl: Angst vor der Zukunft und Pessimismus gegenüber der Gesellschaft.
Oft wird über eine "Subkultur der Gewalt" gesprochen. Vertieft dies die Kluft zwischen Jugendlichen und Erwachsenen?
Im Vergleich zu den Studentenbewegungen im Pariser Universitätsviertel Quartier Latin in den fünfziger und sechziger Jahren sind die heutigen Studenten nicht gewalttätig. In den Vororten jedoch hat die Gewalt in den letzten 25 Jahren zugenommen. Im Jahre 2005 gab es dabei noch keine Waffen. Jetzt gibt es sie. Bisher bleibt die Gewalt noch eine Sache der Vororte. Doch sie setzt sich immer tiefer in der Gesellschaft fest. Allerdings sollte man bei den Unruhen in Vororten zwei Arten von Gewalt unterscheiden. Einerseits gibt es in diesen Vierteln selbstverständlich Banden organisierter Kriminalität. Anderseits gibt es Empörung der Jugend, die ihre Ghettos, die Konfrontation mit der Polizei, die Arbeitslosigkeit und den Rassismus nicht mehr erträgt. Die Rebellion, selbst wenn sie gewalttätig ist, scheint zumindest die Erwachsenen der Vororte nicht von deren Jugendlichen zu entfernen. Wie in dem noch frischen Fall von Villiers-le-Bel. Es wird auf die Polizei geschossen. Natürlich wird diese Gewalt verurteilt. Aber Verständnis dafür gibt es auch. Die Erwachsenen sind nicht sofort auf die Straße gegangen, um die Gewalt zu verhindern. Sie haben als solidarische Zuschauer daran teilgenommen.
Kann man gewalttätige Aktionen wie in Villiers-le-Bel als eine neue Form der Teilhabe an der Demokratie verstehen?
Es ist schwierig, über eine neue Form der Teilhabe an der Demokratie zu sprechen. Dazu müssten wir annehmen, dass es dort eine Demokratie gibt beziehungsweise friedliche Beziehungen zwischen lokalen Organisationen, Parteien, Gewerkschaften und anderen Einrichtungen, die normalerweise für Demokratie sorgen. Was jedoch die "unruhigen Vororte" besonders auszeichnet, sind schwache gewählte Vertreter und lokale Vereine, fehlende Parteien. Vielleicht wird mehr Demokratie durch Respekt und Rechte gefordert. Doch die Mechanismen der Demokratie funktionieren dort überhaupt nicht. Daher die Gewalt.
Kann man bei der Gewalt der Jugend in den Vororten von einem französischen Sonderfall sprechen? Ihre Situation ist sicher nicht schlimmer als die von Jugendlichen in Italien, Spanien oder England.
Aber es gibt ein Ideal von Integration, das immer wieder diffamiert wird sowie viele Versprechen des Staates, die nicht gehalten werden. Daher der Aufstand.
Wird also der Staat in Frankreich zur Zeit von seinen Bürgern heftig kritisiert?
Die Jugendlichen in den Vororten haben mit Nicolas Sarkozy eine Rechnung zu begleichen, da er sie als Quelle für alle Probleme der Franzosen bezeichnet hat. Wenn man auf die Polizei schießt, bedeutet das eine direkte Konfrontation mit dem Staat. Es zeigt aber auch die Angst vor einem Staat, der sich auf die Polizei reduzieren würde. Die Franzosen definieren sich in hohem Maße durch ihren Staat. Zur Zeit scheinen sie einem Staat hinterher zu trauern, der sehr präsent und sorgend war. Das gilt für die Beamten und die Bahnbeschäftigten, die für ihre Renten streiken. Und die Studenten protestieren gegen die Hochschulreform, die den Universitäten mehr Autonomie verspricht, vor allem weil sie einen Rückzug des Staates fürchten. Hier wie dort haben die Franzosen das Gefühl, dass ihr geliebter Staat sie aufgibt.
Kann man erwarten, dass sich die aktuellen Protestbewegungen in Frankreich zu einer allgemeinen Protestwelle ausweiten?
Die französische Gesellschaft scheint von einer Welle von Protestbewegungen und Ausbruchsversuchen erfasst zu sein. Die Unzufriedenheit gegenüber dem Staat und der Regierung. hat jedoch bei Studenten, Beamten, Bahnbeschäftigten und der Jugend in den Pariser Vororten unterschiedliche Gründe. Es geht nicht um die immer gleiche Kritik am System, sondern um die Summe unterschiedlicher Unzufriedenheiten. Ich erwarte durchaus neue Demonstrationen und Streiks. Allerdings glaube ich nicht, dass sich die Akteure je zusammenschließen werden. Eine seltsame Situation: viele Protestbewegungen, aber kaum gemeinsame Interessen außer - das ist ein gemeinsamer Nenner - der Ablehnung von Nicolas Sarkozy.
Das Gespräch führte Charlotte Noblet
François Dubet ist Professor für Soziologie an der Universität Bordeaux II, Forschungsdirektor an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris und Wissenschaftler im Zentrum für soziologische Analysen und Intervention.
Die "Loi Pécresse"
wurde im August 2007 vom französischen Parlament verabschiedet. Das Gesetz gibt den Universitäten größere Autonomie in der Vewaltung ihres Vermögens, der Einstellung von Hochschullehrern, der Ausrichtung des Lehrangebots, der Entwicklung von Kooperationen mit Unternehmen und der Einwerbung von Drittmitteln aus der Wirtschaft. Auch die Universitätspräsidenten sollen größere Vollmachten erhalten.
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