In diesem Herbst spielt wirklich alles verrückt: die Temperaturen, der Gasmarkt, die Politik. Am vernünftigsten verhalten sich noch die Verbraucherinnen und Verbraucher, die laut neuesten Zahlenbisher rund ein Drittel ihres Energieverbrauchs im Vergleich zum Vorjahr eingespart haben. Entgegen allen Befürchtungen von irrationalem Heizen bei offenem Fenster scheinen die meisten mit Bedacht in diesen Winter zu gehen. Von der Bundesregierung kann man das nicht gerade behaupten.
Die hatte sich zu spät von der Gasumlage verabschiedet und darauf gepokert, dass man sich durch die kalte Jahreszeit durchwurschteln könnte. Die Folge: Eine effektive Gaspreisbremse für Haushalte wird es wohl erst im Frühjahr geben, davor hält man sich mit einer Abschlagszahlung im
zahlung im Dezember über Wasser. Das ergab der Abschlussbericht der Gaspreiskommission, der am 31. Oktober der Bundesregierung übergeben wurde. Die Kommission nahm ihrerseits viel zu spät die Arbeit auf und war mit zu wenigen Ressourcen ausgestattet. Darunter leiden müssen die Armen.Das ist FinanzialisierungSollten die Temperaturen schlagartig sinken, werden die Verbrauche natürlicherweise steigen. Bei den aktuellen Heizkosten könnte das für einige eine Vervierfachung der Preise bedeuten. Es ist also politisches Versagen, hier nicht frühzeitig für Preisstabilität gesorgt zu haben. Für den Winter bedeutet das, dass die 200 Milliarden aus dem „Doppel-Wumms“-Entlastungspaket vollends ausgeschöpft werden müssten, um die Haushalte tatsächlich zu entlasten.Noch irrsinniger ist, dass Unternehmen laut des jetzigen Berichts in der Lage wären, ab Januar Gas zum Preis von sieben Cent pro Kilowattstunde zu kaufen und es – ohne irgendetwas produziert zu haben – zum viel höheren Marktpreis weiterverkaufen könnten. Das ist nicht nur eine Subvention der Unternehmen, die im Verhältnis zur fehlenden Entlastung der Haushalte nicht zu rechtfertigen ist, sie birgt auch die Gefahr, die Deindustrialisierung voranzutreiben. Denn wenn es Anreize gibt, Gas einfach weiterzuverkaufen, statt mit den günstigen Preisen zu produzieren und Arbeitsplätze zu sichern, werden diese auch genutzt. Das ist wirtschaftlich fahrlässig, weshalb sowohl der Kanzler als auch die DGB-Chefin Yasmin Fahimi gegensteuern wollen, um dies zu untersagen. Hier gilt es, erneut in letzter Sekunde das Ruder rumzureißen. Es sind aber nicht nur Preise, die dringend reguliert werden müssen.Vielmehr ist es gleich der ganze Gasmarkt, der durch Krieg und Mangellage angeheizt, vollkommen verrückt spielt. Gas ist eben nicht irgendeine Ware, von der man beliebig viel kaufen oder speichern kann. In dieser Krise wird klar, dass es sich um endliche Ressourcen und Speicherkapazitäten handelt – und dass es um das richtige Timing und vor allem Planung geht.Weil genau diese Planung auf dem Weltmarkt aufgrund von konkurrierenden Interessen nicht gegeben ist, erleben wir die Situation, dass innerhalb weniger Wochen erst das Gas zu horrenden Preisen gekauft und die Speicher bis zur obersten Kante gefüllt wurden, nur damit jetzt Flüssiggas-Tanker vor den europäischen Küsten liegen und die Preise wieder abstürzen. Die Weltmarktpreise sind also gerade maximal volatil; und sie folgen der Logik eines Marktes, der eher von Spekulanten getrieben wird als von dem tatsächlichen Verbrauch.Wie auch in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge haben sich der Gasmarkt und seine Preise also von der realen Wirtschaft zumindest in Teilen entkoppelt. Linke Ökonominnen wie Grace Blakeley sprechen deshalb von einer „Finanzialisierung des Kapitalismus“, der sich in Bereichen wie Wohnen oder auch bei der Versorgung mit Lebensmitteln beobachten lässt.Plötzlich treiben spekulative Gewinne (oder Verluste) die Realwirtschaft an. Die Folgen sind extreme Verschwendung auf der einen Seite und massive Preissteigerungen auf der anderen Seite. Beides ist für die große Mehrheit der Weltbevölkerung eine Katastrophe. Die Logik der Finanzialisierung verträgt sich nicht mit demokratischen und langwierigen Prozessen. Sie verträgt sich aber vor allem nicht mit den Bedürfnissen von Menschen und der Endlichkeit der Ressourcen auf diesem Planeten. Politische Lösungen für dieses Problem der finanzgetriebenen Wirtschaftsbereiche sind nicht gerade einfach: Die verflochtenen Weltmärkte, Just-in-time-Planung und Globalisierung lassen sich nicht so schnell umdrehen. Es sind Prozesse, die sich seit den Siebzigerjahren bereits abzeichnen und auf die bereits die eine oder andere globalisierungskritische Bewegung hingewiesen hat.Doch die aktuellen staatlichen Eingriffe in den Markt zeigen an, dass sich allein aus den ökonomischen Zwängen heraus eine Umkehr dieser Logik aufdrängt. Wenn es selbst unter einer Regierung mit FDP-Beteiligung praktisch reinen Keynesianismus gibt, muss der Zugzwang schon besonders groß sein. Das zeigen auch die diversen Gaspreisbremsen unter so unterschiedlichen Regierungen wie den konservativen Tories in Großbritannien, der Mitte-links-Regierung in Spanien oder unter dem Zentristen Macron in Frankreich. Keine Regierung kann sich der Notwendigkeit entziehen, den Energiemarkt zu regulieren.Die große Frage ist nur, wie es nach der akuten Krise weitergeht. Denn Gaspreisbremse und Einmalzahlungen verschaffen bloß Zeit, sie ändern am Grundproblem: gar nichts. Und nur finanzstarke Länder wie Deutschland können sich den Doppel-Wumms auch leisten. Andere europäische Länder sind darauf angewiesen, dass die Schuldenregeln gelockert werden, was wiederum am deutschen Finanzminister hängt. Die Katze beißt sich also in den Schwanz.Um wirklich Stabilität zu erhalten, braucht es europäische Finanzierungsmöglichkeiten zur dauerhaften Regulierung sowie eine nachhaltige Lösung für den Energie- und Strommarkt. Dafür ist Deutschland in der EU zentral. Die Ampelkoalition ist allerdings eine paradoxe Konstellation, bei der die Grünen tendenziell offen für diese Politik sind, die Sozialdemokraten geteilter Meinung und die FDP klar gegen stärkere Regulierung. Es kommt also auch darauf an, wer sich innenpolitisch durchsetzt und wie groß der Druck auf die Regierung in den kommenden Monaten wird.Das Problem ist, dass dieser Winter eine Art Momentum dafür besitzt, die Frage von Versorgung und Planung zu politisieren, einfach weil sie so stark für jeden und jede spürbar ist. Die gesellschaftliche Linke aber ist schwach, während die Regierung sich gegenseitig blockiert. Davon profitiert derzeit noch die politische Rechte, die die Kritik an den politischen Eliten stärker ins Zentrum stellt als die tatsächliche Versorgungslage, geschweige denn Lösungen dafür zu bieten hätte.Die politische Linke steht also unter Zeitdruck, denn sie muss bereits in diesem Winter die argumentative und politische Grundlage dafür schaffen, spätestens im nächsten Winter auch politisches Kapital aus der Krisensituation zu schlagen. Sie braucht gute Pläne dafür, die Versorgung in Deutschland und auf europäischer Ebene sicherzustellen. Viel wichtiger aber: Sie muss diese Planung so popularisieren, dass wir nicht mehr von einer Krise in die nächste stolpern. Sie muss also: den Markt-Irrsinn nachhaltig stoppen.