In Vama Veche ist es still. Nur ein eisiger Abendwind durchkämmt die Gräser des Küstenorts. Im Sommer, wenn die Touristen kommen, verwandelt er sich in einen rumänischen Ballermann. Im Winter sind die kleinen Buden an der Promenade zum Schwarzen Meer verriegelt, weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Vama Veche bildet die Grenze zwischen Rumänien und Bulgarien. Doch der friedliche Schein trügt. Für das Auge nicht sichtbar, überwacht die rumänische Grenzschutzpolizei jeden der 3.147 Grenzkilometer mit Satelliten, Radaren und Weitsichtkameras, rund um die Uhr. Die Technik dafür liefert der deutsch-französische Luftfahrtkonzern Airbus.
Im Fachjargon heißen solche Komplett-Überwachungssysteme „Integrated Border Security Systems“, also integrierte Grenzschutzsysteme. Sie setzen neue internationale Standards. Während sich viele Europäer angesichts von Trumps Mauerbau-Plänen empören und genau registrieren, welche Baustoffkonzerne sich an dem Vorhaben beteiligen wollen, ziehen immer mehr Staaten weitgehend unbemerkt unsichtbare, digitale Grenzen hoch. Begehrt sind dafür nicht nur Kameras, die aus weiter Entfernung Gesichter erkennen, oder Drohnen, die sich automatisch aufladen können. Die sind längst im Einsatz. Die Staaten interessieren sich aber vor allem für ein reibungsloses, automatisches Zusammenspiel der Geräte.
Die neuen Grenzschutzsysteme legen sich wie Spinnennetze über das Land. In Rumänien laufen die Fäden von Grenzregionen wie Vama Veche aus in der Zentrale in der Hauptstadt Bukarest zusammen. Bewegungsdaten, Ergebnisse einzelner Patrouillen, Videos – alles kommt hier an. Die Zentrale in Bukarest bildet damit den wichtigsten Knotenpunkt. Sie sieht aus wie ein abfallender Kinosaal. Anstatt flauschiger Sitze stehen dort aber Schreibtische mit Monitoren und auf der Leinwand an der Stirnseite flimmern Bilder von Karten und Datenbanken. Erst hier kommt der Mensch ins Spiel.
Küsten, Wiesen, Wälder
Hinter Bildschirmen sitzen die Grenzwächter des 21. Jahrhunderts. Zum Beispiel Adrian Popescu. Er koordiniert die rund 15 Beamten, die jeweils hinter drei Bildschirmen sitzen und sich durch Aufnahmen von rumänischen Küstenstreifen, Wiesen und Wäldern klicken – weit weg von der echten Grenze. Jede Auffälligkeit tragen sie in eine Datenbank ein und gleichen sie mit anderen Datenbanken ab. Das Schengener Informationssystem (SIS) in Straßburg beinhaltet zum Beispiel Fingerabdrücke und Gesichtsbilder. Geht es nach dem EU-Rat, sollen nun bald auch DNA-Profile in den Datenbanken erfasst werden.
Das Besondere an den Hightech-Überwachungssystemen: Einmal entwickelt und in Betrieb genommen, funktionieren sie weitgehend ohne menschliches Zutun. Der genaue Überwachungsgrad variiert von Staat zu Staat. Aus Sicherheitsgründen wird er geheim gehalten. Eine Recherche in CORDIS, der öffentlichen EU-Projektdatenbank, gibt aber Hinweise darauf, was bereits alles möglich ist und vor allem: wo die Schwerpunkte liegen.
So hat die EU seit 2006 die Entwicklung von Grenzsicherungstechniken mit mindestens 313 Millionen Euro bezuschusst. Als Gründe für die Subventionierung nennt die EU-Kommission Terrorismus, Schmuggel, Piraterie und Raubfischen. An erster Stelle stand jedoch von Anfang an illegale Migration.
Eine Grenze wie ein Maßanzug
Für diese Infografik wurde ein fiktiver Staat mit einem Komplett-Überwachungssystem entworfen, wie sie große Rüstungskonzerne derzeit an verschiedene Staaten verkaufen. Als Recherchegrundlage dienten dafür interne Dokumente der rumänischen Grenzpolizei, Beschreibungen von EU-geförderten Forschungsprojekten sowie Werbemittel der Rüstungskonzerne.
„Die moderne Grenze darf man sich nicht mehr so vorstellen, wie man sie gewohnt war, also mit Türmen, Zäunen und Beamten“, erklärt etwa ein Sprecher der Airbus-Gruppe. „Moderne Grenzen sind komplett vernetzt. Sie sind wie ein Maßanzug, der an das Gelände angepasst ist.“ Von der Wüste bis zu bewaldeten Bergen sei die Technik auf alle geografischen Gegebenheiten abstimmbar. Entsprechend bieten Rüstungskonzerne jedem Staat individuelle Systeme an. Das vollständige Ergebnis bleibt aus Sicherheitsgründen aber geheim.
Diese Grafik kann deshalb nur mögliche Maßnahmen abbilden. Welche im Einzelfall zum Einsatz kommen, hängt nicht zuletzt auch vom Budget der Auftraggeber ab. Drohnen etwa sind im Vergleich zu Patrouillen-Autos mit Wärmebildkameras noch sehr teuer und dienen bisher eher als Vorzeigeobjekte denn als Alltagsgeräte.
In der Regel sind die meisten Geräte rund um die Uhr aktiviert und die Kommunikationsabläufe automatisiert. Verbunden sind die verschiedenen Geräte über Breitband mit der feststehenden Kommandozentrale.
Das meiste Geld ging dementsprechend in die Seeüberwachung. 31,8 Prozent der Förderung wurden dafür aufgewandt. Entwickelt werden unter anderem Satelliten, Kameras und unbemannte Überwachungsschiffe. Das mit knapp 28 Millionen Euro geförderte Projekt Perseus hat zum Ziel, ein EU-weites Seeüberwachungssystem zu etablieren. Zum Projekt gehört unter anderem der schwimmende Roboter Waveglider. Er bewegt sich allein mit Sonnen- und Wellenenergie auf dem Meer und soll mithilfe von sogenannten Hydrofonen unter Wasser akustische Signale erfassen und einordnen.
Eine ähnlich hohe Fördersumme ging an neue IT- und Kommunikationskonzepte zur besseren Landüberwachung (29 Prozent des Budgets). Zu den teuersten Förderprojekten in dem Bereich gehört Talos. Von 2008 bis 2012 testeten über hundert Wissenschaftler aus acht EU-Ländern, darunter Estland, Finnland und Griechenland, gemeinsam mit der Türkei und Israel einen Patrouillen-Roboter. Das knapp drei Meter hohe und dreieinhalb Meter lange Fahrzeug rollt wie ein Panzer auf Ketten und ist auf allen Seiten mit Kameras und Sensoren bestückt. An der Oberseite gibt es zum Beispiel einen Laserscanner, der das Gelände erfasst. So kann der Talos-Roboter Unebenheiten erkennen und mit entsprechenden Manövern reagieren.
An der Vorderseite des Talos befinden sich außerdem ein Mikro und ein Lautsprecher. Damit könnten Grenzbeamte zum Beispiel direkt mit Grenzüberquerern sprechen. Weil solche Roboter aber nicht jedes Gelände erreichen, testet die rumänische Grenzpolizei derzeit zum Beispiel auch Bodensensoren. Bislang kennt man sie nur zur Erdbebenwarnung. Man kann die Sensoren aber auch für menschliche Schritte optimieren und bei verdächtigen Signalen nahegelegene Kameras aktivieren, die zum Beispiel in den Bäumen hängen.
Elemente der modernen Grenzsicherung
Helikopter
Nicht alles an der Hightech-Grenze funktioniert vollautomatisiert. Neben Drohnen werden auch weiter von Menschen gesteuerte Helikopter oder Boote eingesetzt. Aber auch sie stehen über Funk und Datenverbindung ständig mit der Zentrale in Kontakt
Satelliten
Liefern selbst Bilder und Videos, sind aber vor allem für die stabile Kommunikation der Daten und Bilder in die Zentrale unverzichtbar. Ohne Satelliten wäre keine Echtzeit-Kontrolle über lange Distanzen möglich
Zentralen
Hier laufen alle Daten ein, die an den Grenzen erhoben werden – und von hier gehen die Befehle raus, wie auf Grenzüberquerungen zu reagieren sei. Ein Großteil der Grenzwächter des 21. Jahrhunderts steht nicht an Schlagbäumen, sondern arbeitet vor Computerbildschirmen
Nachtsichtgeräte
Auf Fahrzeugen befestigte Nachtsichtkameras mit Infrarotsystem, 360-Grad-Überwachung, 200-fachem Zoom und Wärmesensoren. Im Dunkeln unbemerkt eine Grenze zu überqueren, ist aufgrund der heutigen Technik praktisch nicht mehr möglich
Security-Checkpoints
Hier finden Identitäts- und Gepäckkontrollen von Einreisenden statt. Diskutiert wird neben dem Erfassen von Fingerabdrücken und Gesichtsfotos auch, eine Datenbank mit DNA-Profilen von Geflüchteten anzulegen
Drohnen
Unbemannten Fluggeräten kommt bei der Kontrolle von Grenzen eine immer größere Rolle zu. Sie fliegen bis zu 20 Kilometer hoch – und ermöglichen so, Menschen lange vor dem tatsächlichen Erreichen der überwachten Grenze zu beobachten
Sensortürme
Auch bei einer weitgehend automatisierten Überwachung stehen entlang der Grenze in regelmäßigen Abständen Türme – ausgestattet mit Nachtsichtkameras und einem Radar, das eine Reichweite von bis zu 20 Kilometern hat
Patrouillenschiffe
Neben schwimmenden Drohnen werden an Seegrenzen auch weiterhin vor allem Patrouillenboote eingesetzt, die aber ebenfalls Video-, Radaraufnahmen und andere Daten in die Überwachungszentrale überspielen
Passives Radar
Eine auf einem Fahrzeug befestigte Antenne, die circa 13 Meter hoch ist. Sie empfängt verschiedene Funkfrequenzen, ohne dabei selbst geortet werden zu können. Unter anderem für das Mithören der Kommunikation von Schmugglern wichtig
Offshore-Plattform
Unbemannte Landeplattformen für Drohnen, auf denen die Flugobjekte vollautomatisch landen und auftanken können. Gibt es so auch auf dem Land für Flugdrohnen, die die Landesgrenzen entlangpatrouillieren
Die EU investiert jedoch nicht nur in die Überwachung von freien Flächen, sondern auch in die Überwachung von Grenzüberquerungsposten (15,4 Prozent). Hierzu zählen insbesondere Hightech-Sicherheitsschleusen für Flughäfen und Weiterentwicklungen von elektronischen Reisepässen. Auch in neue Flugobjekte wird ein erheblicher Anteil der Mittel investiert (14,9 Prozent). Die italienische und portugiesische Marine nutzen zum Beispiel schon Drohnen, um Bootsflüchtlinge aufzuspüren.
„Es ist eine Herausforderung, menschliche Aktivitäten auf hoher See zu überwachen. Wir begrüßen deswegen alle Möglichkeiten, um das sogenannte maritime picture zu verbessern“, begründete Leendert Bal von der European Maritime Safety Agency (EMSA) diese Entscheidung. Mehr Drohnenflotten zu Wasser und in der Luft seien geplant.
Auch die deutsche Bundesregierung schielt auf Hightech-Überwachung. Das Verteidigungsministerium gab Airbus im Juli den Auftrag zur Entwicklung einer bewaffnungsfähigen Langstreckendrohne. Bis 2025 soll die Drohne serienreif sein, die veranschlagten Gesamtkosten liegen dafür bei über einer Milliarde Euro.
Schließlich geht ein erheblicher Teil der EU-Fördermittel in sogenannte Schnüffler (8,8 Prozent). Die Handstaubsauger-ähnlichen Geräte sollen besser als echte Hunde Sprengstoffe, Rauschmittel und auch Menschen riechen. So lassen sich etwa versteckte Passagiere in Lkws oder Schiffen feststellen. Laut der Projektbeschreibung von Sniffer können Hunde nur auf wenige spezielle Gerüche trainiert werden, sie werden schnell müde und in der Öffentlichkeit oft als aufdringlich empfunden. Sniffer, so wirbt die Projektbeschreibung, wäre dagegen ein „hochinnovativer“ Ansatz.
Noch sind die Vorstellungen, wohin diese neuen Techniken alle zusammengenommen führen könnten, nur Gedankenspiele. Es entstehen Grenzen, so dicht, wie sie sich die autoritärsten Regime der Geschichte gewünscht hätten. Im All schweben Satelliten, auf niedrigeren Höhen Drohnen, an Land und auf hoher See patrouillieren ständig und unermüdlich vollautomatische Roboter, und selbst im Boden stecken Sensoren, die jeden menschlichen Schritt registrieren. Sollte die politische Situation sich eines Tages so weit verschärfen oder die Überwachungssysteme von außen gehackt werden, dann wäre es sogar vorstellbar, dass die vollautomatisierte Grenzüberwachung im Extremfall ganz ohne menschliches Zutun auch auf Menschen schießt.
Sparen beim Faktor Mensch
Wird es also bald unmöglich sein, internationale Grenzen unbemerkt zu überqueren? Das fragt sich kaum jemand in einer Zeit, in der die meisten Menschen mehr Wert auf Sicherheit als auf individuelle Freiheit und Fragen des Datenschutzes legen. Dabei gibt es gute Gründe, Grenzen unbemerkt zu überqueren. Flüchtlinge, Whistleblower und verfolgte Minderheiten können mitunter zwingend darauf angewiesen sein, anonym und unbemerkt ein Land zu betreten, um Asyl zu beantragen.
Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl erkennen in der verstärkten Grenzsicherung und der digitalen Aufrüstung daher die Gefahr, dass solche Menschen gezielt schon außerhalb der eigenen Grenzen aufgespürt und inhaftiert würden. „Grenzsicherung darf nicht verhindern, dass Schutzanträge gestellt werden“, sagt Pro-Asyl-Sprecher Günter Burkhardt.
Kate Crawford forscht am renommierten Massachusetts Institute of Technology zu Big Data. Bei Veranstaltungen wie der Internetkonferenz re:publica in Berlin weist sie darauf hin, dass Hightech-Grenzüberwachung nicht nur gegen besonders wehrlose Menschen eingesetzt wird. Sie wird vor allem auch an besonders wehrlosen Menschen getestet, etwa an Flüchtlingen. „Ihre Daten werden ungefragt gesammelt, und sie können nicht rechtlich dagegen vorgehen“, kritisiert Crawford.
So testete der amerikanische Konzern IBM etwa in griechischen Flüchtlingslagern ohne das Wissen der Beteiligten die Software „i2 EIA“. Sie registriert Gesichter und Bewegungen von einreisenden Flüchtlingen und ordnet ihnen einen Credit Score zu, von Crawford „Terrorist Credit Score” genannt. Dieser soll die Wahrscheinlichkeit angeben, wie gefährlich ein Neuankömmling sein könnte.
Es gibt aber nicht nur politische und datenschutzrechtliche Bedenken. Der Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht (Grüne) zweifelt auch den Mehrwert der neuen Technologien an. „Die Hersteller verdienen sich eine goldene Nase auf Kosten der ohnehin knappen Staatshaushalte“, sagt Albrecht. Für Grenzbeamte und Polizisten stünden dagegen immer weniger Mittel zur Verfügung. „So wird seit Jahren gefordert, endlich mehr Geld für grenzüberschreitend arbeitende Ermittlungsteams unter dem Dach von Europol zur Verfügung zu stellen, um die konkrete Strafverfolgung zu verbessern.“
Die Folge: Wegen teurer Vorzeigeprojekte, die möglicherweise nie eingesetzt werden, bleibe am Ende die Sicherheit auf der Strecke. „Das ist eine gefährliche Entwicklung“, warnt Albrecht.
Für das Bundesinnenministerium ist diese Kritik jedoch nicht nachvollziehbar. Die EU-Förderprojekte würden sich auf die Außengrenzen beziehen und hätten nichts mit dem polizeilichen Regelbetrieb zu tun, teilte eine Sprecherin auf Anfrage mit. Die Ausgaben für Grenzbeamte und Polizisten blieben die Aufgabe der Mitgliedsstaaten. Und: „Ergänzend kann festgestellt werden, dass ein funktionierender Grenzschutz nicht ohne moderne Technik leistbar ist.“ Hightech-Grenzüberwachung – für die Bundesregierung ist sie alternativlos.
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