Schulhof Kicken oder prügeln
Das Spiel auf dem Schulhof wird gern als so eine Art Naturzustand des Fußballs betrachtet – leidenschaftlich und rein, soll heißen: noch nicht durch von außen herangetragene Interessen verfälscht. Aber genauso wie der Naturzustand bei den großen Theoretikern des Gesellschaftsvertrags immer mehr gedankliches Konstrukt als soziale Realität war, ist auch der Schulhof kein Idyll des interesselosen Spiels. Stattdessen dient es der Herstellung von Hierarchien. In den allermeisten Schulklassen wird die gruppeninterne Rangordnung, zumindest unter Jungs, nach wie vor über die Fähigkeiten am Ball hergestellt. Das sportliche Kapital ist in diesem Fall gleich dem symbolischen, würde Pierre Bourdieu wohl sagen.
Wer am besten kicken kann, darf seine Mitspieler aussuchen – und die werden dann ihren Möglichkeiten entsprechend gewählt. Genau wie auf dem millionenschweren Transfermarkt der Profis sind die Selektionsmechanismen dabei schonungslos. Wer zuletzt für eine Mannschaft ausgesucht wird, bei dem reicht es nach Einschätzung der anderen nicht über das Wegschlagen des Balls hinaus. Ab in die Abwehr also, vielleicht auch noch Torwart – wobei diesem im zeitgenössischen Fußball ja eine spielgestaltende Rolle zukommt, die Schulhof-Mannschaften bisher meist noch nicht angemessen nachvollzogen haben.
Ich erinnere mich, dass sich in meiner Grundschulzeit fast alle Jungs aus meiner Klasse immer donnerstagnachmittags in einer Jugendgruppe trafen, in der immer nur auf einem lehmigen Bolzplatz gekickt wurde – und zwar ziemlich regellos und mit viel Körpereinsatz. Wenn es regnete und der Platz sich in eine Schlammbrache verwandelte, prügelten wir uns stattdessen in einem Raum des Gemeindehauses. (Die Älteren erinnern sich: Kindliche Förderung war in den 80er Jahren noch kein gesamtgesellschaftlicher Imperativ.) Natürlich ging es auch bei der Freizeitgestaltung an den Regentagen nur um die Hackordnung. Wer am längsten durchhielt und nicht vorzeitig aus dem Schwitzkasten flüchtete, war der Chef.
Aufgrund dieser Erfahrungen muss ich sagen: Ja, Fußball hat unbedingt eine pazifizierende Wirkung – und der Naturzustand auf einem Bolzplatz ist dem in einem schmucklosen Gemeinderaum unbedingt vorzuziehen. Jan Pfaff
Fansein Zweifeln, verzweifeln und doch lieben
Fest in schwarzgelber Hand ist der Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg am Pokalfinalsamstag. Vor dem Europa-Center hat Borussia Dortmund eine Bühne aufgebaut. Ein DJ unterhält die angereisten Fans, manchmal schallt eine Moderation über den Platz und bricht sich an den auf Trucks montierten Aufstellern des Vereins. Der BVB ist echt, suggerieren sie. Der BVB umarmt jeden, der nicht rechtzeitig ausweicht. „Echte Liebe“ ist der Hashtag unter den Jürgen-Klopp-Masken-Trägern.
Was liebt man als Fußballfan, wenn die Welt um einen herum zerbricht? Nichts anderes passiert seit Jahren. Die Festnahmen der FIFA-Funktionäre vergangene Woche waren in ihrer medialen Wucht beeindruckend, die sich dahinter versteckenden Strukturen jedoch symptomatisch für diesen Sport. Fußball 2015 ist von einer Gier nach Macht, Geld, Anerkennung getrieben. Auf allen Ebenen. Da machen FIFA, UEFA, der DFB und auch die DFL mit allen ihren angeschlossenen Vereinen kein Unterschied.
Das große Geschäft wird dabei immer in der Ferne gewittert. Auf Märkten in Asien, Amerika und dem Rest der vermarktungstechnisch noch zu kolonialisierenden Welt. National werden Fans zum Sicherheitsrisiko, von der Polizei drangsaliert, von den Unternehmen der Bundesliga in Marketingpläne gepresst. Die 90 Minuten am Samstag wirken manchmal nur noch wie ein notwendiges Übel, um die Soap-Opera-Geschichten der Liga zumindest nach außen durch sportliche Fakten abzusichern.
Wieso sollte man da noch Fan bleiben? Wie kann man da noch Fan von Borussia Dortmund, einem der Beschleuniger des aktuellen Hypes, bleiben? Die kurze Antwort: Weil man sich nicht wehren kann, weil man in diese Rolle hineinwächst.
Die lange Antwort: Weil es nicht das Unternehmen ist, das man im Stadion unterstützt, sondern weil es eine eigene Lebensgeschichte ist, die wir immer weitererzählen. Am vergangenen Wochenende auf dem Breitscheidplatz standen Dortmunder, Schotten, Norweger, Iraker, Luxemburger, Engländer zusammen. Sie sangen ihre Lieder, erzählten sich ihre Geschichten und träumten von einem letzten Erfolg unter Jürgen Klopp, nach einer bescheidenen Saison. War dann nichts mit dem Sieg zum Abschied, was aber die Liebe nur tiefer macht. In der Niederlage erkennt man den echten Fan.
Trotz FIFA, trotz Krise. Der Fußball bleibt eine kollektive Weltflucht. Träume aber lassen sich nicht kontrollieren. Das schützt das Spiel. Stephan Uersfeld

Foto: Michael Angele
Integration Willkommenskultur auf dem Platz
Ich empfinde es immer ein wenig als peinlich, wenn Männer den großen Jungen raushängen lassen und ihre Bolzplatzerfahrungen zum Besten geben. Aber da es hier um einen höheren Wert geht, den der Völkerverständigung, möchte ich ein wenig Werbung machen für eine simple und effektive Form, kulturelle Fremdheit zu überwinden und Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten mussten, das Gefühl zu geben, dass sie hier willkommen sind.
Aber nein, das klingt viel zu hochgestochen, all diese Dinge sind ja erst einmal gar nicht so wichtig, wenn man zusammenkommt, um zu kicken. Seit ein paar Wochen spielen also eine deutsche und eine Schweizer „Kartoffel“ mit Jungs aus dem nahen Flüchtlingsheim Fußball. Ins Leben gerufen wurde das Spiel durch die Unterstützer des Flüchtlingsheims in der Straßburger Straße in Berlin, Prenzlauer Berg. Gespielt wird auf einem Kleinfeld um die Ecke, die Organisation ist informell, bloß nicht so ein Gewese machen. 1. Spieltag: Man fragt nach den Namen der Mitspieler und regelt die Modalitäten, Torschuss ab der Mittellinie, Rückpass erlaubt, kein Toraus. Das Spiel ist enorm fair, keine Fouls, der Mitspieler wird angespielt, wenn er besser postiert ist. Habe ich auch schon anders erlebt, macht einfach Spaß. 2. Spieltag: Man begrüßt sich, spielt, fragt in der Trinkpause, woher man kommt (Irak, Syrien), spricht ein wenig über Fußball international. 3. Spieltag: Turnier. Man begrüßt sich mit Umarmung, spielt, fragt J. in der Pause, ob er auch Kurde sei wie L., nein, er sei Christ, und man denkt: Scheiß IS, sagt es aber nicht. Das Spiel ist aggressiver als die Male davor, es gibt Fouls, man entschuldigt sich, es ist eben ein Turnier. Neben dem Spielfeld geraten zwei Spieler aneinander, der „Bürgermeister“ des Heims trennt die Streithähne.
Das nächste Mal: Ich möchte mehr von J. erfahren, er spricht sehr gut Deutsch und spielt sehr gut Fußball, hat im Irak sieben Jahre im Verein gespielt, so viel weiß ich schon. Was er wohl für einen Beruf hat? Beim Turnier spielte auch ein Mädchen mit. Er hat sich köstlich amüsiert, als sie gegen seine Kumpels ein Tor geschossen hat. Wie denkt er über Frauen? Was hat er für eine Zukunft? Welche Fragen hat er an mich? Mal schauen, vielleicht wird mehr als nur Fußballspielen daraus, wenn nicht, hätte ich auch kein schlechtes Gefühl. Michael Angele
Frauen In Ruhe spielen lassen
Ein Korruptionstest für seine Funktionäre? Ein Glaubwürdigkeitstest? Das wäre nachvollziehbar gewesen. Aber der Weltfußballverband FIFA lässt erstmal an der falschen Stelle Strenge walten: Er schickt die Fußballerinnen vor der am Wochenende beginnenden Weltmeisterschaft in Kanada zum Geschlechtstest. Damit statt des Verbands- wenigstens der Hormonhaushalt stimmt. Frauen brauchen also ein Attest, um an der WM teilnehmen zu können. Ein Attest bescheinigt normalerweise eine Krankheit. Nur was ist hier krank – die Frau oder das System?
Frauen und Fußball, das ist zwar gerade in Deutschland eine Erfolgs-, aber auch immer noch eine Leidensgeschichte. Erst war das Spielen für Frauen verboten, dann spielten angeblich nur Mannsweiber, daraufhin waren alle lesbisch, worauf plötzlich alle enorm weiblich wurden und sich einige vor der WM 2011 für den Playboy auszogen. (Als müsse man das eine Klischee durch ein anderes ausmerzen.) Ihren Lebensunterhalt können Fußballerinnen nicht mit ihrem Sport verdienen, das mediale Interesse an der WM in Kanada ist auch eher gering, und dann wird noch über das niedrige Spielniveau gelästert. Meistens von Männern. Und jetzt der Geschlechtstest. Au Backe.
Frauenfußball hat viele Gegner und kämpft nach wie vor mit vielen Vorurteilen. Ein Tatbestand, dem keine andere Sportart, die Frauen betreiben, so extrem ausgesetzt ist. Und gegen den sich viele Frauen empört zur Wehr setzen. Aber was tun? Man sollte den Spieß endlich umdrehen und das Image von Frauenfußball einfach Image sein lassen.
Statt ständig Sexismusvorwürfe zu formulieren, könnte man betonen, dass der Frauen- im Gegensatz zum Männerfußball eben kein Problem mit Homosexualität hat. Statt über niedrige Spielerinnengehälter zu klagen, kann man stolz darauf sein, dass die meisten Spitzenspielerinnen einen Beruf erlernt haben. Und der ewige Vergleich mit dem Männerfußball und dessen absurd übersteigerten Ablösesummen nervt, weil das sowieso auf einem ganz anderen Planeten stattfindet. Der Männerfußball sollte deshalb kein Maßstab für Fußballerinnen und ihre Fans sein. Wichtig ist auf dem Platz. Und da läuft der Ball bestens. Die FIFA soll die Frauen einfach in Ruhe spielen lassen. Jutta Heeß
Teamgeist Wir woll’n euch kämpfen seh’n
Man kann nicht gerade sagen, dass die Bundesliga in diesem Jahr besonders abwechslungsreich gewesen ist. Die Bayern haben die Liga dominiert, ein paar Mannschaften haben erfolglos versucht mitzuhalten und im Tabellenkeller gab es ein dichtes Gedrängel. Am Ende musste der Hamburger Sportverein in die Relegation. Genauso wie im Jahr zuvor.
Ich gestehe, ich zähle mich zu den Fans des HSV. Seit dem Tag im Jahr 1977, an dem ich in der Ostkurve des alten Volksparkstadions stand und bei der Durchsage der Mannschaftsaufstellung auf das „Kevin?“ des Stadionsprechers zusammen mit Zehntausenden „Keegan!“ antwortete. Ich muss dazu außerdem noch sagen, dass ich ein eher passiver Fan bin. Was in der Liga los war, habe ich eher aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Dass der HSV grottenschlecht spielte. Dass einige Trainer kamen und gingen. Die Häme über die lustlosen, superteuren Spieler.
Aber dann ging es plötzlich um den Abstieg in die zweite Bundesliga. Es ging um die Frage, ob das einzige nie abgestiegene Gründungsmitglied der Liga in der nächsten Saison nicht mehr gegen den Hass- und Angstgegner Bayern München, sondern gegen Energie Cottbus spielt. Was das für den HSV bedeutet, für das Selbstverständnis der Hamburger insgesamt. Und ob man noch zu einem Club stehen kann, der eine große Geschichte so arrogant verbockt, als wäre das nichts. Da geht es dann nicht mehr um das Selbstverständnis der Hansestadt. Sondern um das eigene.
Die Relegationsspiele gegen den Karlsruher SC habe ich beide gesehen, eigentlich mehr aus Solidarität als aus Hoffnung auf den Klassenerhalt. Es war immer noch ein grottenschlechter Kick. Das hatte ich schon erwartet. Aber etwas hatte sich geändert. Ich habe selten eine Mannschaft gesehen, die so unbedingt den Willen ausstrahlte, nicht untergehen zu wollen. Bei der zeitweise sechs Profis auf dem Platz standen, denen der HSV bereits gekündigt hatte und die trotzdem etwas taten, worauf man die ganze Saison gewartet hatte: Sie gaben alles.
Dass der HSV am Ende gewonnen hat, war natürlich schön, aber gar nicht so entscheidend. Etwas anderes war viel wichtiger. Für so eine Mannschaft muss man sich nicht schämen. Wirklich nicht. Philip Grassmann
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