Absoluter Mehrwert

Die neue Agenda Verlängerung der Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich

Wüsste man es nicht besser, könnte man einen dreistufigen "Generalplan" vermuten. Punkt 1: Steuern runter. Dieses Kapitel haben SPD und Grüne weitgehend abgearbeitet. Viel mehr geht nicht, wie bisweilen sogar Konzernherren zugeben. Die Steuerbelastung noch weiter zu senken, würde irgendwann auch Kapitalinteressen an einer intakten Infrastruktur berühren. Punkt 2: Sozialabgaben runter. Hier ist mit der Riester-Rente, mit diversen Kostendämpfungen und zuletzt mit Schröders "Agenda 2010" einiges geschehen, aber angesichts der Größe der Aufgabe, den Sozialstaat auf ein unternehmerfreundliches Maß zu stutzen, bleibt noch viel zu tun. Nun also endlich Punkt 3: Löhne runter. Nicht moderate Tarifabschlüsse, wie in der Vergangenheit, sondern Senkung des Lebensstandards. Unbeweglich wie es nun mal ist, war dem deutschen Publikum diese Botschaft lange Zeit nicht zu verkaufen, zumindest nicht auf direktem Wege. Deshalb jetzt die indirekte Variante, die der Umkehrung einer alten Gewerkschaftsforderung gleichkommt: Verlängerung der Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich. Da das eigentliche Ziel, die Senkung der Stundenlöhne, geschmacklos klingen würde, geraten die "unerträglich langen Urlaubszeiten und die viel zu kurzen Jahresarbeitsstunden" ins Visier.

Natürlich kann von einem "Generalplan" keine Rede sein. Nichts wäre absurder als rot-grüne Chef-Assimilanten auch nur in die Nähe einer konzeptionell durchdachten Politik zu rücken. Frei von Gestaltungszielen fühlen sich offenbar nur dann wohl, wenn ihnen die möglichst kurzfristige Anpassung an Stimmungen gelingt. Diese Stimmungen allerdings, die den Resonanzboden des Politischen bilden, sind nicht allein dem spontanen Empfinden des Volkes geschuldet. Sie werden auch geformt, gelenkt und geleitet. Wichtig ist dabei nicht so sehr der eine oder andere Vorschlag, der in die Debatte geworfen wird. Mit seiner Empfehlung, dass doch bitte jeder, verteilt auf fünf Jahre, 500 Stunden unbezahlter Mehrarbeit leisten solle, wird Georg Ludwig Braun, der Präsident der Industrie- und Handelskammern, wenig bewirken. Ebenso dürfte Clements Attacke auf die Feiertage zunächst eine Eintagsfliege bleiben. Aber darauf kommt es nicht an. Wenn eine neue Front eröffnet wird, geht es nicht um die konkreten Antworten, sondern zunächst um die Art der Fragen, die als selbstverständliche, nicht mehr zu hinterfragende ins Bewusstsein sinken sollen. Wie können wir mit sechs Wochen Urlaub und weniger als 1.500 Arbeitsstunden jährlich noch wettbewerbsfähig sein? Die dritte Stufe des "Generalplans" hat damit die ihr adäquate Formulierung gefunden. Wird sie im Sinne der Fragesteller beantwortet, wären wir wieder in einer Zeit, die Karl Marx bereits zu seinen Lebzeiten überwunden glaubte. Dass es nochmals, wie in der Frühzeit der industriellen Revolution, darum gehen könnte, die Arbeitszeiten zu verlängern und den zugunsten des Kapitals geschaffenen Mehrwert absolut zu erhöhen, entzog sich vor 130 Jahren seinem kritischen Verstand.

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