Mittlerweile ist das Vogelgrippevirus H5N1 an den Grenzen der Europäischen Union angekommen. Lokale Ausbrüche in Rumänien und die großflächige Verbreitung in der Türkei schüren die Befürchtung, dass es früher oder später auch in Mitteleuropa zu Krankheitsfällen kommen könnte. In erster Linie tritt der Erreger in den Beständen von wirtschaftlich genutztem Geflügel auf: Hühner, Puten, Enten und Gänse.
An dem Virus sind im Laufe der letzten Jahre weltweit aber auch etwa 80 Menschen gestorben. Das ist, so tragisch jeder einzelne Fall sein mag, nicht viel; an gewöhnlichen humanen Grippeviren starben laut Daten des statistischen Bundesamts in Deutschland allein im Jahr 2004 125 Personen, in Verbindung mit Lungen
mit Lungenentzündung sogar über 19.000.Die in Asien und in der Türkei an Geflügelgrippe Erkrankten hatten fast ausnahmslos engen Kontakt zu Vögeln und können sich dort direkt angesteckt haben. Die Übertragung von Vogelgrippe auf den Menschen mit anschließend schwerem Krankheitsverlauf ist - und bleibt auch vorerst - selten. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch wurde nach wie vor nicht nachgewiesen. Allerdings zeigen neuere Untersuchungen, dass die Dunkelziffer von Infektionen beim Menschen deutlich über der Zahl der bekannten und untersuchten Fälle liegen muss.PandemiepotentialAnfang des Monats veröffentlichte eine Gruppe schwedischer Wissenschaftler im Fachmagazin Archives of Internal Medicine die Ergebnisse einer in Vietnam erarbeiteten Studie. In Flia Bavi, einem ländlichen Gebiet Vietnams, in dem es mehrere nachgewiesene Ausbrüche von Geflügelgrippe in Nutztierbeständen gegeben hatte, wurde Mitte des Jahres 2004 die Bevölkerung darüber befragt, ob es in den vorangegangenen Monaten in der Familie grippeähnliche Erkrankungssymptome gegeben hatte, außerdem erfasste die Befragung mögliche Kontakte zu Geflügel. So kamen Daten von über 45.000 Menschen zusammen. 84 Prozent der Befragten lebten in Haushalten mit Geflügel, etwa 18 Prozent hatten unter Grippesymptomen gelitten. Aus der epidemiologischen Datenbasis ergab sich, dass 650 bis 750 Fälle von grippeähnlichen Erkrankungen auf direkten Kontakt mit krankem oder totem Geflügel zurückzuführen sein mussten. Daraus schließen die Wissenschaftler, dass die Übertragung viel häufiger stattfindet als bisher angenommen, geben aber an, dass Laboruntersuchungen nötig sind, um diese Ergebnisse zu bestätigen.Hinweise dazu kommen eventuell aus der Türkei: Dort haben Mediziner des Keciören-Krankenhauses in Ankara bei Menschen, die nur schwache oder gar keine Grippesymptome aufwiesen, eine Infektion mit H5N1 nachgewiesen. "Es spricht vieles dafür, dass das Pandemiepotenzial von H5N1 dadurch deutlich höher einzuschätzen ist", erklärte dazu Hans-Dieter Klenk, Professor am Zentrum für Hygiene und Infektionsbiologie der Uni Marburg gegenüber Spiegel Online. Ein Virus, das bei schwachem Krankheitsverlauf längere Zeit in einem menschlichen Organismus verbleibt, hat mehr Zeit, sich durch Mutation an diesen möglichen neuen Wirt anzupassen.Derzeit sprechen wir aber nach wie vor über eine Geflügelkrankheit, deren weitere Verschleppung von Tier zu Tier man einzugrenzen versucht. In der aktuellen Risikobewertung des Friedrich Löffler Instituts wird nur ein möglicher Verbreitungsweg der Krankheit als hoch riskant eingestuft, nämlich der illegale Transport von lebenden Vögeln oder Geflügelprodukten aus Ländern, in denen die Geflügelgrippe grassiert. Das Virus kommt also, wenn es kommt, wahrscheinlich auf der Straße, der Schiene oder mit dem Schiff.Da zwischen Deutschland und der Türkei ein reger Reiseverkehr herrscht, plant das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMVEL) Informationsmaterial in deutscher und türkischer Sprache vorzubereiten. Neben den Bemühungen, Reisende vom toten oder lebendigen Hühnchen als Mitbringsel abzuhalten, werden andere Schutzmaßnahmen vorbereitet: Verstärkte Warenkontrollen und die erneute Aufstallungspflicht für Geflügel.Ausgesetztes HausgeflügelDiese soll angeordnet werden, sobald der Frühjahrvogelzug beginnt. Doch die Einschleppung von Geflügelgrippe mittels Vogelzug halten Experten für unwahrscheinlich, da die Tiere, die über Mitteleuropa nach Norden ziehen oder hier den Sommer verbringen, entweder über die Iberische Halbinsel oder über das Mittelmeer und Italien einfliegen. Sie passieren keine Gebiete mit Krankheitsherden. Auf Vögel, die über die Türkei geflogen sind und sich dort eventuell infiziert haben, treffen diese Tiere unter Umständen erst wieder in den Gebieten, in denen sie den Sommer verbringen.Wen schützt also die Stallpflicht? Die Haushühner vor wilden Virenträgern oder eher die Wildvögel vor Haustierkrankheiten? Das Aufstallungsgebot, das die professionellen Geflügelmäster und Züchter mit Freilaufflächen im letzten Herbst eingehalten haben, wurde von den Hobbyhaltern vielerorts auf die eine oder andere Art umgangen. Mancher hat genervt seinen ganzen Bestand geschlachtet, viele andere haben ihre Tiere weiterhin herum laufen lassen, einige haben sie einfach ausgesetzt. "Am Dollart hat sich die Zahl der wildlebenden Hausgänse deutlich erhöht", berichtet Helmut Kruckenberg, Biologe aus der Arbeitsgruppe Gänseforschung an der Universität Osnabrück, von den Bestandszählungen in diesem Winter. Die plötzlich heimatlosen Haustiere gesellen sich dann zu den Wildgänsen, und "als Übertragungsweg für Viren in die Wildpopulation", meint Kruckenberg, "ist das ideal".Auch aus Naturschutzgründen haben domestizierte Gänse, Enten und Hühner nichts in freier Wildbahn zu suchen. Kruckenberg sieht hier neben der Übertragung von Krankheiten auch einen Konflikt mit der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie. Dieses europäische Natur- und Artenschutzabkommen bestimmt, dass die Etablierung nicht heimischer Tier- und Pflanzenarten verhindert werden soll. Also muss auch der Hühnerhalter dafür sorgen, dass ihm seine Haustiere nicht entwischen und sich freilebend fortpflanzen. Sinnvoll hält Kruckenberg ganzjährige Netze über dem Auslauf und für Wildtiere nicht zugängliche Tränken und Futterstellen. Sie schützen zum einen die Wildtiere vor den Haustieren und verhindern zum anderen, dass Haustiere verwildern.Während hierzulande auf den offiziellen Start des Vogelzugs gewartet wird, um alle Hühner und Gänse unter ein Dach zu bringen, plädiert der russische Nationalistenführer Wladimir Schirinowski dafür, das Problem vollständig und auf Dauer auszumerzen und einfach alle Zugvögel abzuschießen: "Die Vögel sollen da bleiben, wo sie sind!"
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