Abwerbung und Ausverkauf

Bosnien-Herzegowina Das Land hat viel medizinisches Personal an Deutschland verloren. In der Corona-Krise fehlt es schmerzlich
Ausgabe 20/2020

Hier können sie nur davon träumen, gegen die Pandemie mit einem Gesundheitssystem gewappnet zu sein, das deutschen Standards gleicht. In Bosnien-Herzegowina gab es Anfang April gerade einmal 258 Beatmungsgeräte, sprich: 7,3 pro 100.000 Einwohner. Für Deutschland lag zu diesem Zeitpunkt das Verhältnis bei einem Bestand von mehr als 30.000 Aggregaten bei 36,1 pro 100.000. Doch nicht allein die mangelhafte Ausstattung der Hospitäler ist bedenklich. Seit Jahren leidet das bosnische Gesundheitswesen darunter, dass Ärzte und Pflegekräfte in EU-Staaten abwandern, und das massiv.

Auch deshalb kann eine steigende Zahl von Corona-Fällen für Orte wie die Kleinstadt Velika Kladuša im Kanton Una-Sana dramatische Folgen haben. Weil viele der jüngeren Bewohner weggezogen sind, leben dort überwiegend ältere Menschen, die auf wirksamen medizinischen Beistand angewiesen sind. Dazu ist das lokale Krankenhaus schon wegen des fehlenden Personals nur bedingt in der Lage. Erschwerend kommt hinzu, dass Tausende von Flüchtlingen aus Afghanistan oder dem Irak, die in Camps und Ruinen unter verheerenden hygienischen Bedingungen leben, Hilfe brauchen. Sie wollen die Europäische Union erreichen und werden daran gehindert, die Grenze zwischen Bosnien und Kroatien zu passieren.

Azra Kudić-Kederović leitet die Kinderstation des Hospitals in Velika Kladuša, auf der ihr vier Pflegekräfte zu Verfügung stehen, die sich um bis zu einhundert Patienten täglich kümmern. Kudić-Kederović beobachtet mit einiger Sorge, wie sich das Virus ausbreitet und die Gesundheit des Personals nicht unbeschadet lässt. „Wir haben hier so gut wie keine adäquate Ausrüstung, nur ein paar Masken und Visierscheiben lokaler Produzenten.“ Schutzkleidung sei momentan sehr begehrt, das lasse die Preise derart steigen, dass sie für ihr Krankenhaus nicht mehr bezahlbar seien. Auch das zeitweilige Exportverbot für medizinisches Equipment in Nicht-EU-Länder wirke nach. „In unserer Klinik“, sagt Azra Kudić-Kederović, „gibt es kein einziges Beatmungsgerät, das heißt, schwer an Covid-19 Erkrankte müssen in das eine Stunde entfernte Bihać transportiert werden.“ Sie stelle sich auch deshalb auf eine schwere Zeit ein, weil überall in Bosnien das Infektionsrisiko zunehme.

Jeder für sich

Ein Grund dafür ist nicht zuletzt eine wachsende Zahl von Rückkehrern aus der Diaspora, die ihre Jobs in anderen Staaten verloren haben und von ihren Familien wieder aufgenommen werden. Jasmin Ćehić, Chefarzt im Krankenhaus von Velika Kladuša, bereiten besonders die Flüchtlingscamps große Sorgen. Da dort so viele Menschen alternativlos untergebracht seien, würden sie sich früher oder später mit Covid-19 infizieren. Was, wenn dann die Kapazitäten des Hauses nicht reichen, um einzugreifen? Statt seinen Dienst als Arzt zu versehen, muss sich Ćehić ständig darum kümmern, Krankentransporte zu organisieren, wenn Patienten in größere, leistungsfähigere Kliniken anderer Landesteile verlegt werden. Die Beförderung sei alles andere als einfach. „Die Straßen sind in einem miserablen Zustand, und die bei uns herrschende politische Situation macht es doppelt kompliziert“, erklärt der Chefarzt.

Da die beiden Entitäten – die Föderation von Bosnien und Herzegowina und die Republika Srpska – auf institutioneller Ebene nicht kooperieren, müssen schwer kranke Patienten statt ins nahe gelegene serbische Banja Luka die doppelt so weite Strecke bis nach Sarajevo oder Tuzla gebracht werden. Selbst jetzt in der Corona-Krise kommt es zu keinem koordinierten Vorgehen mit dem serbischen Teilstaat. Jeder kämpfe für sich allein gegen das Unheil dieser Krankheit, resümiert Jasmin Ćehić ernüchtert.

Tatsächlich gibt es für Bosnien-Herzegowina landesweit keine einheitlichen Ausgangsbeschränkungen. Umstritten bleibt zwischen den Entitäten außerdem, welches Geld wie eingesetzt wird, um die Pandemie einzudämmen. Wochen hat es gedauert, bis sich das dreiköpfige Staatspräsidium über die Aufteilung von Mitteln des Internationalen Währungsfonds (IWF) verständigen konnte. Es kursieren Befürchtungen, die brisante Situation – besonders die unterschiedlichen Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung – könnte die beiden Teilrepubliken des 1995 geschaffenen Staates weiter auseinanderdriften lassen. Nicht zufällig wird das politische System Bosnien-Herzegowinas als eines der kompliziertesten weltweit gesehen.

Evresa Okanović, der Direktorin des Krankenhauses in Velika Kladuša, macht vor allem die Abwanderung von Fachpersonal zu schaffen. Sie glaubt, gerade jetzt während der Krise werde sich das auf die Qualität der medizinischen Hilfe auswirken. Der Wegfall der in diverse EU-Staaten abgewanderten Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte mache sich eben in Ausnahmesituationen besonders bemerkbar. Freilich sei die Auswanderung kein neues Phänomen, so Okanović. Einen Exodus in den Westen hat es immer gegeben, auch schon vor dem Bürgerkrieg Anfang der 1990er. In den letzten Jahren nun hat erkennbar mehr medizinisches Personal das Land verlassen.

Schwestern-Dieb Jens Spahn

Für das Krankenhaus in Velika Kladuša sei das ein Aderlass gewesen, sagt Evresa Okanović, zwei Ärzte und sechs Pflegekräfte allein im Vorjahr. Es liege auf der Hand, weshalb sich diese Arbeitsmigration vorrangig in Richtung Deutschland bewege: „Der Lebensstandard, die Gehälter und Arbeitsbedingungen sind dort deutlich besser, das ist kein Geheimnis.“ Velika Kladuša sei nun einmal als Arbeitsplatz nicht sonderlich attraktiv, die Region schlecht zu erreichen.

Hauptsächlich junge Bosnier verlassen zumeist unmittelbar nach der Schule ihre Heimat und kehren oft nicht mehr zurück. Für Evresa Okanović ist das frustrierend, doch kann sie es diesen Arbeitsnomaden nicht übelnehmen, dass sie in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft ihr Heil woanders suchen. Okanović weiß von befreundeten Direktoren, wie es in größeren Kliniken aussieht. „In Bihać versuchen Agenturen, Personal für die Arbeit in Deutschland abzuwerben. Sie sind dabei nicht zimperlich, gehen sehr aggressiv vor und bombardieren die Schwestern mit Mails und Anrufen.“

In Deutschland haben neben dem demografischen Wandel auch die niedrigen Gehälter in der Pflege und jahrelange Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen zum Mangel an qualifizierten Kräften beigetragen. Anstatt die Ursachen wirksam zu bekämpfen, wirbt die deutsche Regierung vermehrt um Fachpersonal aus dem Ausland. Und Pfleger aus dem ehemaligen Jugoslawien genießen einen ausgezeichneten Ruf. Da viele Bosnier oder Kroaten bereits in der Schule Deutsch lernen, sind sie nach ihrer Ausbildung in Deutschland begehrt. Die Anwerbung erfolgt entweder durch private Agenturen oder staatliche Programme – das prominenteste Beispiel trägt den Namen „Triple Win“. In Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit wirbt die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) seit 2013 auf den Philippinen, in Tunesien, Serbien und Bosnien-Herzegowina um medizinisches Personal. Dabei suggeriert der klangvolle Name „Triple Win“, dass es Vorteile für alle Beteiligten gäbe: Die deutschen Krankenhäuser könnten ihren Personalbestand aufstocken, die angeworbenen Mitarbeiterinnen erhielten lukrative Perspektiven, die Arbeitsmärkte in den Herkunftsländern würden entlastet. Zwar hat Bosnien-Herzegowina eine hohe Arbeitslosenquote, dennoch greift das Argument vom entspannten Arbeitsmarkt zu kurz. Ein „nachhaltiges Gewinnen von Arbeitskräften“ zielt nicht auf junge Bosnier, sondern gleichfalls Personal mit mehrjähriger Berufserfahrung und abgeschlossener Ausbildung, die vom Herkunftsland – nicht Deutschland – finanziert wurde.

Die Zahlen belegen weiter, dass die Bundesregierung hinsichtlich der Gesundheitsstandards mit zweierlei Maß misst. Auf 10.000 Menschen kommen in Bosnien-Herzegowina gerade einmal 63 Pflegekräfte, in Deutschland sind es aktuell mehr als doppelt so viel. Aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage des Bundestagsabgeordneten der Linken, Andrej Hunko, an das Kabinett Merkel im Januar geht hervor, dass allein durch „Triple Win“ bereits über 600 Pflegekräfte aus Bosnien-Herzegowina in die Bundesrepublik vermittelt wurden. Die Rekrutierung einer Pflegekraft kostet den Arbeitgeber laut Bundesregierung dabei zwischen 8.000 und 10.000 Euro. Das im März in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll den Zustrom von medizinischem Fachpersonal durch beschleunigte Verfahren weiter erleichtern.

Keine Frage, abgewanderte Ärzte sind für die Herkunftsländer allein schon wegen des langjährigen Studiums und der damit verbundenen staatlichen Aufwendungen kaum zu ersetzen. Umso schwerer fällt ins Gewicht, dass inzwischen immer mehr bosnische Mediziner ihrem Land den Rücken kehren. Bereits Ende 2018 arbeiteten in Deutschland 533 Mediziner aus dem Balkanstaat, was einer Steigerung von 17,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr entsprach.

Im postjugoslawischen Serbien ist die Situation kaum anders: Das Pflegepersonal emigriert in westeuropäische Industriestaaten, der Exodus ist im vollen Gange, sodass der EU-Beitrittskandidat mittlerweile die Reißleine ziehen musste. Spätestens im kommenden Jahr solle das „Triple Win“-Projekt nicht mehr mit serbischer Beteiligung fortgeführt werden, erklärte Arbeitsminister Zoran Đorđević vor wenigen Wochen in Belgrad. Mit gewohnt polemischer Verve hat der serbische Präsident Aleksandar Vučić den deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn zwar als „einen fähigen Mann“ bezeichnet, aber zugleich wissen lassen, er verwahre sich dagegen, dass der ihm weiterhin „seine Krankenschwestern klaue“. Die Bundesagentur für Arbeit teilte mit, man bedauere das serbische Veto, werde das Projekt jedoch mit den drei anderen Partnerländern (Bosnien-Herzegowina, Philippinen, Tunesien) fortführen. So wird wohl auch Bosnien-Herzegowina in Zukunft weiterhin einen Teil der ausgebildeten Fachkräfte abgeben müssen. Von den Geldüberweisungen in die Heimat profitieren die Familien der Migranten, die Hospitäler gehen leer aus.

In der Corona-Krise könnte die Abgeschiedenheit von Velika Kladuša ausnahmsweise von Vorteil sein. Chefarzt Jasmin Ćehic vermutet, dass sich das Virus aufgrund der ländlichen Struktur langsamer ausbreiten werde als in dicht besiedelten Ballungsräumen. Selbst wenn die Pandemie überstanden sein sollte, dürfte im bosnischen Gesundheitssystem die Angst vor der Zukunft damit nicht ausgestanden sein. In den nächsten fünf Jahren wird ein beträchtlicher Teil des medizinischen Personals pensioniert. In Velika Kladuša ist es zumindest partiell gelungen, adäquaten Ersatz zu finden. Die Klinik finanziert die Spezialisierung einiger Ärzte, die anschließend für mehrere Jahre vertraglich an das Haus gebunden sind.

Philip Jokić studiert Politikwissenschaften in Leipzig und arbeitet als freier Autor. Robert Putzbach lebt in Berlin und arbeitet als freier Journalist

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