Der gute Ton ist etwas für die Öffentlichkeit. Privat kann man ganz anders hinlangen, wenn einem danach ist. Es darf nur nicht herauskommen. Aber genau das ist jetzt dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski passiert. Die Gossensprache, in der er sich etwa über die USA äußerte, war durchaus von jener Deftigkeit, mit der einst der amerikanische Präsident Richard Nixon im Oval Office über andere herzog, was fatalerweise auf die Tonbänder geriet, mit denen dieser Präsident alles mitschnitt. Nixons Sturz hätte das allerdings ebenso wenig herbeigeführt, wie der Fall Sikorski in Warschau eine Regierungskrise von Dauer bewirken konnte. Was heißt schon guter Ton?
Ihn zu verfehlen, ist wohl nicht in jedem Fall eine Verungl
Verunglückung. Berühmt wurde Anfang der 70er Jahre der Satz des Sozialdemokraten Herbert Wehner: „Wir lassen uns doch von den acht Arschlöchern in Karlsruhe nicht die Ostpolitik kaputt machen.“ Das Bundesverfassungsgericht hatte der Bundesregierung auf Betreiben der CDU/CSU-Opposition Korrekturen bei den Ostverträgen aufgetragen. Der Vorgang war bedeutsam genug, dass er in der Tagesschau auftauchen musste. Unvergesslich das Gesicht des Sprechers Karl-Heinz Köpcke, als er das ominöse Wort vor einem Millionenpublikum aussprechen musste. Er tat es mit sichtbarem Unbehagen. Diese Politiker!Wehners Wortwahl darf man zum Anlass nehmen, auf einen bemerkenswerten Unterschied bei den sogenannten schlimmen Ausdrücken hinzuweisen. In der westlichen Welt, besonders in den USA, werden diese aus der Welt des Sex and Crime genommen. In Deutschland bevorzugt man Bezeichnungen und Bilder aus der Analsphäre und nennt das Ergebnis Fäkalsprache. Woher solche Fixierung kommt, ist Gegenstand von Spekulationen. Die einen sagen, das habe mit der strengen frühkindlichen Erziehung zur Sauberkeit im Deutschland von ehedem zu tun. Für die USA weisen andere darauf hin, dass die puritanische Wertschätzung von Frauen beleidigende sexuelle Anspielungen gerade als Gegensatz dazu provoziert habe.Solche Phänomene oder Bewertungen ändern sich mit der Zeit. Als der Kanzleramtsminister Ronald Pofalla seinen Parteifreund Wolfgang Bosbach anschnauzte, er könne dessen „Scheiße“ nicht mehr hören, war man nicht über die Wortwahl schockiert. Man war vermutlich überhaupt nicht schockiert, sondern gab sich scheinheilig empört darüber, wie die da in Berlin zwischen Bundesregierung und Bundestag miteinander umgehen. Das Wort Scheiße dürfte in weiten Teilen der Bevölkerung längst umgangssprachlich etabliert sein und heute durchweg so gebraucht werden, wie man früher „Mist“ sagte.Die Erwartung des BesserenGossensprache, auch das zeigen die bekannt gewordenen Fälle, ist keine Besonderheit einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse. Dem Irrtum, dass dies so sei, erlagen vor 40 Jahren die Terroristen der Roten Armee Fraktion. Diese, zumeist aus akademisch geprägten Familien stammend, wollten bekanntlich eine Revolution herbeibomben und suchten begleitend dazu in der Arbeiterschaft ein zustimmendes Publikum. Deshalb sorgten sie dafür, dass bekannt wurde, wie ihre Sprache vom Argot beherrscht wurde. Frauen wurden da gern Fotzen genannt (was übrigens auf eine Orientierung an den USA deutet). Bei den Arbeitern in Deutschland, bei Nicht-Akademikern wurde aber gerade das als besonders abstoßend empfunden.Es ist indes weniger die Sprache, die Abscheu hervorruft, als vielmehr die Haltung, die man dahinter vermutet. Dem nach außen gewahrten guten Ton wird misstraut. Auch das ist ein altes Phänomen. Im 19. Jahrhundert in England waren die „Viktorianer“ Sammelbegriff für eine äußerst prüde Gesellschaft. Aber die historische und literarische Forschung entdeckte schon bald „the other Victorians“, von denen mit ganz anderen, pornografischen Vorlieben die Rede sein musste.Das wird wohl immer so sein, wo man es mit Menschen zu tun hat. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – an der Spitze Herren, deren Lebenswandel über jeden Zweifel erhaben war und ist – schrieb einmal eine Redakteurin einen Kommentar zum Thema Aids und Prävention. Darin unterlief ihr der Satz: „Das Kondom ist in aller Munde.“ Die nächste Redaktionskonferenz sah nur Männer mit wissendem Grinsen und plauderbereiter Heiterkeit. Gute Stimmung.Wo liegt das Problem? Es liegt nicht darin, dass es Gossensprache gibt, den Argot, hässliche Ausdrücke. Es liegt nicht darin, dass es die Dinge und Sachverhalte, persönliche Vorlieben und Perversionen gibt, die sie bezeichnen. Das alles ist bekannt, daran wird sich nie etwas ändern, und wenn sich alle vornehmen, durch und durch anständigen Menschen zusammentäten und in eine Stadt weitab von der bösen Welt zurückzögen, wo sie nur unter sich wären, sähe es dort nach einiger Zeit so aus wie anderswo auch. „Der liebe Gott muß immer ziehn“, dichtete Wilhelm Busch, „dem Teufel fällt’s von selber zu.“Das Problem liegt in der Erwartung des Besseren als Verpflichtung von Leuten, die in irgendeiner Weise führen. Zumal von Politikern erwartet man Vorbildliches. Gehorsam verlangt nach anerkennungsfähiger Überlegenheit bei dem, der befehlen kann. „Schlimm, dass der, der lenken, doch falsch denken kann“, sagt der Wächter in der Antigone des Sophokles, als der Tyrann Kreon ausrastet. Die Ausbrüche der Großen dieser Welt sind meist Ausraster.Aber nicht immer. Die Differenz zwischen der Aura politischer Führung und dem geistigen Zuschnitt im Privaten in ein und derselben Person kann in der Öffentlichkeit ebenso verstörend wirken wie die Verschleierung solcher Differenz täuschend. Konrad Adenauer wurde oft vorgeworfen, er verfüge nur über einen Sprachschatz von 900 Worten. Helmut Kohl, sicherlich der Gebildetste unter den deutschen Bundeskanzlern (Hilfsassistent bei Dolf Sternberger, bei Leopold-von-Ranke-Forscher Walther Peter Fuchs promoviert), bemühte sich kaum jemals, seine Bildung in der ihr angemessenen Sprache vorzuzeigen. Er blieb bei seinem pfälzischen, unbeholfen wirkenden Idiom, was ihm am Anfang seiner Karriere wohl genutzt haben mag. Kohl war es gleichgültig, ob die Leute ihn nach seiner Bildung beurteilten, diese überhaupt zur Kenntnis nahmen, sie achteten oder nicht. Er war sich ihrer sicher, und das genügte ihm.Schmidts StussHelmut Schmidt, ein Bundeskanzler mit eher geringer Bildung – was an den ungünstigen Verhältnissen in der Zeit lag, in der man sich Bildung erwirbt –, legte großen Wert darauf, auch in seinem Wissen oder Halbwissen souverän zu erscheinen. Wie man das macht, hatte er in den Offizierskasinos der Wehrmacht gelernt. Das dort Gelernte trägt ihn bis heute. Nie traute sich jemand, ihm ins Gesicht zu widersprechen, wenn er Stuss redete. Die kritikfähigen Gesprächspartner zuckten zurück, schämten sich später dafür und kamen nicht wieder darauf zurück. In den Ländern Westeuropas allerdings nannte man ihn wegen seines Auftretens Feldwebel, er war damit degradiert und aus dem Offizierskasino von einst nachträglich entfernt.Der Auftritt von Politikern (oder besser: Staatsmännern) wird an dem gemessen, was man in den großen Geschichtsbüchern über sie in den Haupt- und Staatsaktionen liest. Das ist zumeist klug zusammengestellt und in gehobener Sprache formuliert. Politik, so der Schluss der Leser, muss etwa in der Art funktionieren, Politiker müssen dieser Sprache entsprechen.Der Politiker darf nicht aus der Rolle fallen, wenn er sich den Respekt derer bewahren will, die er führen soll. In dieser Hinsicht war das Bild, das sich eine vielschichtige amerikanische Öffentlichkeit von ihrem Präsidenten Bill Clinton machen konnte, als sie erfuhr, welche Dienstleistungen er im Weißen Haus von einer jungen Praktikantin empfangen durfte, dem Respekt abträglich, den das Amt verlangt. Dass er die Affäre politisch überstand, lag daran, dass bei der politischen Polarisation in den USA die Anhänger Clintons seine Leistungen für zu bedeutend hielten, um ihn der Opposition zu opfern. Die Erfahrungen, die man mit seinem Nachfolger George W. Bush machen musste, gaben ihnen mehr als recht.Dass ändert nichts daran, dass sich die Menschen keinen Politiker wünschen, mit dessen Kindern sie ihre Kinder nicht spielen ließen. Mag Konrad Adenauer nur über 900 Worte verfügt haben – im Reden oder Handeln traute man ihm privat Unappetitliches oder Widerwärtiges nicht zu, Walter Ulbricht wohl ebenso wenig. Wenn sie schlecht abschneiden, was ihre Sprache und ihren intellektuellen Horizont betrifft, so deshalb, weil sie mit ihrem politischen Lebensweg in einer ganz anderen Kategorie angekommen waren. Winston Churchill erhielt für seine Bücher den Literaturnobelpreis. Und von General Charles de Gaulle heißt es, seine Memoiren seien so gut geschrieben, dass man ihm deshalb gern die Fehler verzeiht, die er als Politiker machte. Skat-Regel: Wer schreibt, der bleibt.
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