Achtung, dieser Autor erklärt nichts

Stil Der argentinische Schriftsteller César Aira lotet die Möglichkeiten des schelmischen Erzählens aus
Ausgabe 15/2015

Man kann, einfach um einer Arbeitshypothese nachzugehen, fragen, warum das Kind im Krankenhaus Geschichten erzählt, die mit der Wahrheit nichts zu tun haben. Warum es den behandelnden Arzt anlügt. Allerdings muss man sich überlegen, wer da überhaupt vom Arzt behandelt wird, in dieser wundersamen Erzählung Wie ich Nonne wurde, von César Aira. Wer da anhebt mit den Worten: „Meine Geschichte, die Geschichte, ‚wie ich Nonne wurde‘, begann sehr früh in meinem Leben, und zwar kurz nach meinem sechsten Geburtstag.“

Alles deutet darauf hin, dass ein Einzelkind und Mädchen erst eine grauenvolle Episode erlebt und eine Portion übel schmeckendes Erdbeereis vom groben Vater aufgezwungen bekommt, sich schon als „Heulsuse“ sieht und völliges Chaos anrichtet, bevor wir überhaupt verstehen, dass das Eis mit Zyankali verseucht ist.

Zyankali also – wir lernen trocken: ein verbreitetes Problem in Argentinien –, wundersames Überleben, Krankenhaus, und der kranke Don César ist sich selbst nicht im Klaren, warum er oder sie hier Lügen auftischt: „Ich konnte eine dumme Gans sein, wie ich wollte, ohne dass ich dafür bestraft wurde. Aber es war nicht einfach nur passiver Widerstand. Die bloße Verweigerung wäre zu sehr vom Zufall abhängig gewesen, weil manchmal das Nichts die richtige Antwort sein konnte, ich aber mein Geschick nicht in die Hände des Zufalls legen wollte. Zwar hätte ich auf seine Fragen nicht antworten müssen, machte mir aber die Mühe und log.“

Wer jetzt die ersten drei Bände der César-Aira-Reihe aus dem Matthes-&-Seitz-Verlag liest, kann zusehen, wie rasch aus der Hypothese eine Regel wird: Aira, geboren 1949 in der Provinz Buenos Aires, erklärt nichts. Seine Geschichten, die wie Sturzregen, der in Bächen glatte Fensterflächen hinabströmt, alle Motivationen der Personen verschwinden lassen, und sie den Launen der Ereignisse, der Willkür der Situation aussetzen. Es gibt keine zwingende Logik, sondern höchstens eine unzuverlässige Begründung eines unzuverlässigen Erzählers.

Aira erklärt schon deshalb nichts, weil in der Begründung eine „Geschichte“ läge, eine Dramaturgie, die sich von der Exposition zur Auflösung strecken müsste: Daran liegt ihm nichts. Vielmehr kann man sogar die sanft lächelnde Haltung eines Erzählers vermuten, die gegen eine Dramaturgie arbeitet, sie unterläuft und vernichtet. Zielt da nicht, aus der Welt des Kindes, das den Vater im Gefängnis besuchen muss, der Blick auf uns? Kommentiert da nicht einer nebenbei die festen Konventionen der Literatur, wie auch die Leseerwartung: „Die Vorstellungen, die ich mir davon vorher schon gemacht hatte, brachen, obwohl ich mir gar keine gemacht hatte, in sich zusammen.“

Und ist das nicht auch eine Selbstbeschreibung des Autors, wenn aus den Welten, die Aira skizziert und durch sein Personal zusammenfügt, Sätze ragen, die sich mit wenigen Modifikationen wie eine Matrix der Arbeit des schelmischen Erzählers lesen lassen: „Der erfahrene Lügner weiß, dass der Schlüssel zum Erfolg darin besteht, überzeugend darzustellen, dass man von bestimmten Dingen eben nichts weiß. Zum Beispiel hinsichtlich der Konsequenzen dessen, was er sagt.“

All das ist keine Spielerei, sondern präzises Stilmittel. Atemlos folgen wir dem wilden Ritt durch die ungekämmte Psyche des Kindes, der Blick bleibt wegen der sprachlichen Immersion intakt. Überhaupt, der Kinderblick: In Interviews betont Aira, es mit Pablo Picasso zu halten, der nämlich zum kindlichen Malen zurückwollte. Airas unsichere Protagonisten sind oft Kinder und Jugendliche, oder ein zwergenhafter buddhistischer Mönch – Aira nutzt ihren reduzierten, eingeschränkten Blick aus der Randperspektive, von der noch ungefestigten Warte. Und kleidet ihn präzise aus. Der schwankende Blick spiegelt sich in der manchmal kristallinen Sprache, die dann wieder rauschhaft als Innenansicht fließt. Die Erzählungen fallen um, drehen sich ein, kollidieren mit der nüchternen Rationalität, wie ihre Figuren kollidieren, verzweifeln und doch weiter voranstürmen. Ob dann der winzige Mönch noch rechtzeitig zum Beginn der Fernsehsendung kommt – einer minutiösen Begehung einer riesenhaften Vagina inklusive korrekter Verortung der Klitoris –, ist nur von Gewicht, wenn wir die Angst desjenigen nicht schätzen, der die Sendung zu verpassen glaubt.

César Airas wunderbare Erzählungen, kurz und scheinbar schnell zu lesen, öffnen sich nur dem Geduldigen, wie die zwanglose Welt eines Kinderspiels.

Literatur

Wie ich Nonne wurde César Aira Klaus Laabs (Übers.), Matthes & Seitz 2015, 128 S., 16 €

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