Adel und radel

Sportplatz Im Jahre 1907 beschloss der sehr wohlhabende und etwas verschrobene Graf Pépin de Gontaud aus Toulouse, dass er die in jenem Jahr zum fünften Mal ...

Im Jahre 1907 beschloss der sehr wohlhabende und etwas verschrobene Graf Pépin de Gontaud aus Toulouse, dass er die in jenem Jahr zum fünften Mal stattfindende Tour de France bestreiten würde. In Anbetracht seiner bescheidenen körperlichen Fitness war klar, dass er fremde Hilfe benötigen würde, und so engagierte er gegen Bares zwei Fahrer, die ihm über die Berge helfen sollten. Die beiden kräftigen Kerle spendeten ihm Windschatten, besorgten ihm Getränke und flickten ihm wohl auch schon mal das Rad. Dafür nächtigten sie in den besten Herbergen und Hotels. Das Abenteuer dauerte nur einige wenige Etappen, dann stieg de Gontaud vom harten Radsattel auf die weichen Sitze in den Wagons der nationalen Eisenbahngesellschaft um und fuhr nach Hause. Die Idee, la grande boucle als Mannschaft in Angriff zu nehmen, war ebenso ungewöhnlich wie wegweisend. In jenen frühen Jahren der Tour ging jeder Fahrer noch für sich allein an den Start, die ersten Werkteams sollte es erst 1909 geben. Heute ist die Tour ohne Mannschaften gar nicht mehr denkbar.

De Gontauds Idee, im Team zu fahren, verdeutlicht darüber hinaus, dass - bei aller Schinderei - die Tour bereits in ihren frühen Jahren die Züge einer stark hierarchisierten aristokratischen Gesellschaft trug. Nicht umsonst bezeichnete der damalige Tour-Chef Desgrange die beiden Helfer des Grafen als "Domestiken" und schuf damit einen aus dem Radsport-Diskurs nicht mehr wegzudenkenden Begriff. Wenn Jan Ullrich und Lance Armstrong in diesem Jahr den Windschatten ihrer Teamkollegen suchen, wandeln sie also auf den Spuren de Gontauds.

Die Verbindung von Adel und Radel in der historischen Anekdote leistet aber noch mehr: In ihr kommt die Tour ganz zu sich selbst - als Allegorie der menschlichen Existenz. "Ich habe herausgefunden", schrieb der Philosoph, Naturwissenschaftler und Droschkenlinienerfinder Blaise Pascal im 17. Jahrhundert, "dass das Unglück des Menschen seinen Ursprung einzig und allein darin hat, dass er nicht in der Lage ist, nichts tuend in einem Zimmer zu bleiben." Stattdessen sucht er das divertissement, den Zeitvertreib, auf dass es ihn seine miserable Unerlöstheit vergessen lasse. Das kommt mit unhistorisch-anthropologischem Anspruch daher, bezeichnet in Wirklichkeit aber die Lage des politisch funktionslos gewordenen Adels im Jahrhundert des Sonnenkönigs. Was de Gontaud die Tour de France, das waren seinen Vorfahren die Salons, das gesellschaftliche Spiel und - sozusagen idealtypisch - die Jagd. Was die hoch zu Rosse sitzenden Grafen jedoch im tiefsten Inneren antreibt, so Pascal, ist ihnen gar nicht bewusst: "Sie wissen nicht, dass sie das Auf-der-Jagd-Sein suchen, und nicht die Beute".

Ab diesem Wochenende zeigen uns ARD und Eurosport drei Wochen lang wieder Bilder davon, wie die Aristokraten des Radsports im Zeitalter der Demokratien mit dem Problem umgehen: Sie fahren mit ihren Domestiken im Kreis durch ein Land, das Heimatland des Philosophen natürlich, und einer darf dabei sogar ein gelbes Leibchen tragen, zum Zeichen dafür, dass er der beste aller Miserenverdränger ist. Das ist seit ein paar Jahren natürlich einer aus Amerika, dem Heimatland des modernen divertissement, Showbiz genannt. Auch Jan Ullrich ist endlich wieder dabei. Was passiert, wenn man einem wie ihm den Zeitvertreib auf dem Fahrrad verbietet, ließ sich am 1. Mai 2002 beobachten: Ohne Ablenkung sitzt der Held nichts tuend in seinem Wohnzimmer und wird von den Pascal´schen Gespenstern der Misere gepeinigt. Fahrrad fahren darf er nicht (das Knie), und so weicht er auf Alkohol aus. Der Abend endete bekanntlich mit Autounfall und Fahrerflucht.

Pascals Heimatstadt Clermont-Ferrand wird auch zum 100. Geburtstag der Tour wieder großzügig umfahren werden - geradeso als wolle man nicht an den humorlosen Denker erinnert werden, der einem die Vergeblichkeit des eigenen Tuns wieder ins Gedächtnis rufen würde. Zum Glück, denn damit wird der Weg erst frei für den Mythos vom Radhelden im Kampf gegen sich selbst und die Naturgewalten. Ein Kampf, den ein anderer französischer Denker, Roland Barthes, zweihundert Jahre später zu den "Mythen des Alltags" zählte, und der uns heute ungleich mehr über uns selbst zu sagen scheint als das Gleichnis vom jagenden Aristokraten.

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