Seit über fünf Wochen legen Streiks der Eisenbahner, der Busfahrer und Angestellten im Pariser Nahverkehrsnetz das Land mehr oder weniger lahm. Nach Gewerkschaftsangaben beteiligten sich während des jüngsten Aktionstages am 9. Januar in allen größeren Städten 1,7 Millionen Menschen, neben Eisenbahnern und Lehrern auch Ärzte, Anwälte sowie die Beschäftigten von Raffinerien und Treibstofflagern. Lange blieb die Regierung von Édouard Philippe hart und setzte auf die Hoffnung, die Streikenden würden irgendwann zermürbt sein. Eine trügerische Erwartung, weder in der Bevölkerung noch in den meisten Medien kippt bisher das Verständnis für Aufruhr und Protest. Nach Umfragen halten das noch immer 60 Prozent der Franzosen für eine hinnehmbare Reaktion auf die Rentenreform.
Wie zu erwarten, ist unter diesen Umständen der politische Druck auf Präsident Macron und seinen Premierminister gestiegen. Letzterer kommt nunmehr der Abwehrfront entgegen, denn vorerst soll es das auf 64 Jahre erhöhte Renteneintrittsalter nicht geben und besagter Passus aus dem Gesetzentwurf gestrichen werden. Bis Ende April erhalten Gewerkschaften und Unternehmerverbände Zeit, eine finanzierbare Alternative auszuhandeln – ansonsten drohen Dekrete.
Geschwächter Premier
Ähnlich wie vor einem Jahr, als die Aktionen der Gelbwesten begannen, erdulden die Franzosen den Ausnahmezustand auf Straßen und Schienen, weil eine Mischung aus Zukunftsangst und gekränktem Gerechtigkeitsempfinden sie solidarisch sein lässt. Viele sind eben nicht der Meinung des neoliberalen Ökonomen Gilbert Cette, der von Armut bedrohten oder davon betroffenen Pensionären rät: „Nichts hindert Sie, mit einem Job neben der Rente Ihr Einkommen aufzubessern.“ Auch das von konservativen Blättern lahm gerittene Argument zieht nicht, wonach Gelbwesten und Streikende die Demokratie gefährden, dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) zugute kommen und demnächst Marine Le Pen zur Präsidentschaft verhelfen. Das Argument wird durch den Hinweis nicht überzeugender, Macron und Marine Le Pen lägen in Umfragewerten etwa gleich hoch bzw. gleich tief – bei 29 Prozent. Solcher Zahlenhokuspokus belegt nur, dass Macron seinem Image in zwei Jahren geschadet hat und die Rechtsextremisten ihren Wähleranteil trotzdem nicht auf einen Wert jenseits der 30 Prozent hochtreiben konnten.
Abgeordnete der Präsidentenpartei La République en marche (LRM) zweifeln öffentlich an Philippes Verhandlungsgeschick und ermahnen ihn, reformwilligen Gewerkschaften wie der Confédération Française du Travail (CFDT) die Hand zu reichen. Deren Führung unterstützt das Ziel der Rentenreform, die 42 Sonderregelungen durch ein universelles Punktesystem zu vereinheitlichen. CFDT-Chef Laurent Berger kündigte allerdings seine Zustimmung auf, als er den Pferdefuß entdeckte: Dass nämlich die Systemreform an eine Finanzreform zur Sanierung des Staatshaushalts gebunden ist. Um das zu erreichen, hatte die Regierung das Versprechen gebrochen, es bei einem Rentenbeginn im Alter von 62 Jahren zu belassen. Stattdessen sollten selbst Menschen, die sehr früh erwerbstätig wurden, gezwungen sein, bis zum 64. Lebensjahr durchzuarbeiten.
Die CFDT hielt das nicht nur für ungerecht, sondern obendrein für unnötig, da die Höhe des Defizits in den Rentenkassen umstritten ist. Berger schlug eine Rentenfinanzierungskommission der Sozialpartner vor, die eine Alternative ohne erhöhtes Eintrittsalter finden sollte. Dass Premier Philippe inzwischen eingelenkt hat, dürfte die CFDT in ihrem Verhandlungswillen bestärken – zu Lasten der radikaleren CGT?
Zuvor schon hatte die Regierung Konzessionen gemacht. Polizisten, Eisenbahnern, Piloten, Soldaten, Anwälten und Flugbegleitern wurden Besitzstandsgarantien zugesagt, ferner Mindestrenten von 1.000 Euro angekündigt, wovon besonders Bauern, Geringverdiener und Kleinunternehmer profitieren sollen. Hinterlässt das Wirkung? Bisher kaum.
Zur Schwächung des Premiers trug Emmanuel Macron mit dem bei, was er Neujahr einfädelte: Die Ernennung von Jean-François Cirelli zum Offizier der Ehrenlegion. Cirelli ist Chef der Frankreich-Filiale von Blackrock, des weltweit größten Vermögensverwalters, dem auch Friedrich Merz (CDU) diente. Blackrock verwaltet französische Vermögen von gut 30 Milliarden Euro. Die linke Senatorin Éliane Assassi (PCF) stellte bereits Mitte Dezember einen Zusammenhang zwischen der Rentenreform und engen Beziehungen des ehemaligen Investmentbankers Macron zur globalen Finanzmarktindustrie her. Spuren dieser „Connection“ finden sich im Reformprojekt wieder, nicht zuletzt im Ziel, die Beitragsbemessungsgrenze für Reiche bei der Rentenversicherung von 324.000 auf 120.000 Euro zu senken. Damit fiele der Anteil des Beitrags, den Reiche zur Rentenversicherung leisten und damit zur sozialstaatlichen Umverteilung, von 28 auf knapp 3 Prozent.
Es kristallisiert sich als Absicht der Reform heraus, die Reichen aus der Mithaftung für den Sozialstaat zu entlassen und so die globale Finanzmarktindustrie zu begünstigen, die für ihre „private Altersvorsorge“ auf Hunderttausende von Neukunden rechnen kann. Verglichen damit ist die deutsche Riesterrente ein Testlauf im Labor. Mit anderen Worten, Macrons Reform zielt aufs Ganze, den Kern des Sozialstaats – die Solidargemeinschaft. Zurück bliebe eine Gesellschaft, die in verarmende Staats- und begüterte Privatrentner gespalten wäre.
Kommentare 7
Die gegenseitige Verachtung der "couches sociales" ist tief verwurzelt, dann sollen sie doch Kuchen essen! Ein französischer Präsident ist immer auch ein bißchen König, der Élysée immer noch "château" genannt. Les Misérables, nicht nur im Film, top aktuell, nein, auch in der Realität. Wer die drei Bücher des "Unsichtbaren Komitees" seit 2010 liest, weiss, dass es jederzeit zum vorhergesagten "Kommenden Aufstand" kommen kann. Die Franzosen sind emotional und radikal, wenn es ins Mark geht. Macron verachtet sie, alle, die nini, die sans culottes, die sans papiers. Per Dekret heisst: L`état c`est moi, es könnte der Funke sein! Peng!
Super Foto.
In Deutschland würde das durchgehen...liegt vielleicht an den verbotenen politischen Streiks. Streik ist in D leider kein individual recht.
In Deutschland würde das durchgehen...liegt vielleicht an den verbotenen politischen Streiks. Streik ist in D leider kein individual recht.
Kein Streikverbot in Deutschland!
Beachten Sie bitte: Es gibt in Deutschland kein Gesetz, dass "politischen Streik" verhindert.
Was es gibt ist ein Urteil, das unter der Federführung von Carl Nipperdey, der mit dem Naziregime kooperierte, zustande kam.
Lesen Sie dazu bitte u.a.
"Bei dieser Illegalisierung des politischen Demonstrationsstreiks ist es in Deutschland geblieben, obwohl es kein Streikverbot gibt."
https://www.fritz-bauer-archiv.de/widerstandsrecht/politischer-streik
https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_Gallas_Nowak_Wilde_Politische_Streiks.pdf
Auch Oskar Lafontaine hat vor einer Weile einen Neustart versucht.Mit anderen.
Detlef Hensche: „Rechte schafft man, in dem man sie sich nimmt“
Stöbern Sie bitte hier:
https://politischer-streik.de/online-artikel/
Auch in Frankreich steigt die Lebenserwartung, während die Anzahl der Erwerbstätigen, die mit ihren Beiträgen einen Rentner finanzieren, sinkt. Man wird daher um eine Anpassung des Renteneintrittsalters und/oder eine Anpassung des Rentanniveaus nicht umhinkommen. Erst recht nicht, wenn man bedenkt, in welch prekärer Situation sich der französische Sozialstaat befindet.
Aber den Franzosen kümmern solche einfachen Tatsachen nicht, er denkt allein an sich selbst und daran, wie er selbst den maximalen Profit aus Papa Staat herausquetschen kann: Generalstreik!
Warum eine Senkung der Beitragsbemessungsgrenze von (gewaltigen!) 320.000 Euro um rund zwei Drittel eine Senkung der einzuzahlenden Beiträge um 90 Prozent bewirken soll, ist mir ein mathematisches Rätsel. Überdies dient die Beitragsbemessungsgrenze auch dazu, die Höhe der erworbenen, und später auszuzahlenden Rentenbeiträge gering zu halten. In Deutschland liegt die Beitragsbemessungsgrenze bei rund 80.000 Euro. Wer also 300.000 Euro jährlich verdient, und diesen Lebensstandard im Rentenalter beibehalten will, der wird sich nicht auf die staatliche Rente verlassen können, sondern - und das fällt bei diesem Einkommen natürlich auch leicht - private Kapitalvorsorge betreiben müssen.
Ich schlage vor, die Sozialisten enteignen Black-Rock-Frankreich und verteilen die erbeuteten 30 Milliarden an das tapfere französische Volk, das sich weder von Vernunft noch von Mathematik irritieren lässt: 450 Euro einmalig für jeden!!!
Yes, life expectancy is unambiguously increasing, and besides, pensioners receive quite a large pension relative to other European countries and can afford a normal vacation, I was recently in excellent apartments in Paris https://www.glamourapartments.com, and I saw ordinary pensioners from provinces can afford to live there.