Afiktionados

Linksbündig Hat der biedere Buchhalter Bernhard Jagoda vielleicht Lyotard und Derrida gelesen?

Wer im Jahresabschluss der Bayer AG blättert, kann spannende Lektüre erahnen - vorausgesetzt man weiß, was "Passivierungswahlrechte" und "cash-flow" sind. Immerhin kann auch der laienhafte Leser dem Jahresabschluss entnehmen, dass 2000 die Bezüge des Vorstands 10 Millionen 387.801 E betrugen, und dass man einen Jahresüberschuss von 1,702 Milliarden E erwirtschaftet hatte. Hinter solchen Zahlen müssen irgendwo die kleinen und großen Schweinereien des Big Business versteckt sein, verbergen sich die harten Kämpfe des freien Marktes, nachvollziehbar in einer Kolonne von Ziffern, dechiffrierbar für akkurate Kenner.
Doch über die Story hinter den Zahlen hinaus, strahlen sie selbst mit ihrem bloßen Vorhandensein etwas aus: Den kalten Glanz der Objektivität, die rare Härte der Wahrheit. Sie sind nackte, nüchterne Nummern - letzte Pfeiler in der erlogenen bunten Welt der Fiktionen. Die Worte eines Vorstandsvorsitzenden? Möglicherweise nichts als Hoffnungs-, sozusagen Liebeslyrik. Die Zahlen in einem Geschäftsbericht dagegen? Objektivität, Wahrheit, Realität! 1,702 Milliarden Überschuss sind 1,702 Milliarden Überschuss sind 1,702 Milliarden Überschuss. Oder auch: 4,29 Millionen Arbeitslose sind 4,29 Millionen Arbeitslose sind ... - Moment! - möglicherweise 5,5 Millionen Arbeitslose, wie der Wirtschafts-Weise Jürgen Donges behauptet? Oder noch mehr? Sicher ist nur, dass die aus der Bundesanstalt für Arbeit gemeldeten Vermittlungszahlen nicht stimmen, und das einzige Kriterium der Schröder-Regentschaft, auf das sich der Kanzler festnageln lassen wollte, nun in Beliebigkeit verschwimmt.
Fakten, Fakten, Fakten? Fast scheint es, als hätte die Postmoderne auch die Mathematiker erreicht, als arbeite man an der Dekonstruktion der Arbeitsmarktdaten, als habe Bernhard Jagoda, der Buchhalter mit der biederen CDU-Karriere, Lyotard und Derrida gelesen.
In den USA indes wird derzeit an einem Wirtschaftskrimi gearbeitet, in dem ein prominentes Energieunternehmen und einige Politiker eine Rolle spielen: die Enron-Pleite. Die interessanteste Figur in der Schmierenkomödie ist auch hier ein Fetischist der Nummern-Revues, nämlich der Wirtschaftsprüfer von Arthur Andersen, dem Enron das Lesen der Jahresabschlüsse übertragen hatte. Dem passte, nun ja, die Kontextualisierung der Unternehmensdaten nicht, weshalb er die Akten im Schredder verschwinden ließ und somit eine neue Realität fingierte. Andersen und Arbeitsämter enttäuschen diejenigen, die sich festgehalten hatten an den Jagodas, gehofft hatten auf die biederen Erbsenzähler, die als letzte Gewissens-Instanz in trockenen Prüfberichten Unstimmigkeiten wieder in stimmiges Zahlenwerk verwandelten.
Schlechte Gewissen, unstimmige Zahlen, trockene Berichte - wer will das heute wirklich noch lesen? Man liebt doch die Fiktionen, Seifenstatistiken, selbst gefälscht, angenehm, hält besser. In der BfA ist der endgültige Ausbruch der nüchternen Nummern aus dem muffigen Aktendeckel der Objektivität zu erwarten, und - so fair sollte man sein - die Stadt Nürnberg hätte es verdient, nicht immer mit dem Grau-in-Grau des Bernhard Jagoda identifiziert zu werden. Bislang allerdings war der Drahtseilakt zwischen Fakten und Fiktionen Könnern aus dem Genre "Faction" wie Robert Harris vorbehalten. Harris hat mit dem Bestseller Enigma die Vorlage für einen aktuellen Kinofilm geliefert, in dem englische Mathematiker mit einer Dechiffriermaschine die Codes der Nazis knacken - frei nach einer wahren Begebenheit.
Möglicherweise, so keimt eine leise Hoffnung, sind die Arbeitsmarktdaten und Jahresabschlusszahlen nicht unwahr, sondern vielleicht fehlt es lediglich an einer Kantianischen Erkenntniswende: Die Bedingungen der Möglichkeiten, die sind bislang in all der Zahlengläubigkeit der Unkundigen nicht erkannt worden. Vom Sein zum Bewusstsein! Zur Postmoderne mag es noch einige Skandale weiter sein. Das bedeutet: Die Beschränkungen der Faktenhuberei müsste man sich vergegenwärtigen, und dazu lernen, was cash-flow und Passivierungswahlrechte sind. Trösten mag, dass die Substantivierungen der Postmoderne auch nicht viel komplizierter sind als das Einmaleins der Buchhalter. Vorhang auf für ein neues Drama auf dem Arbeitsmarkt: Code-Knacker gegen Afiktionados. Sie kämpfen um Zahlen und liefern ein Stück konkreter Poesie.

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