AFRIKA Der Schweizer Schriftsteller und Soziologe Jean Ziegler über die Suche nach vorkolonialer Erfahrung und den Abschied von einem »globalisierten Killerkapitalismus«
Ethnische Gewalt entlädt sich auf dem Schwarzen Kontinent nicht länger nur in Bürgerkriegen, die auf das Territorium eines Staates beschränkt bleiben. Gerade die Konflikte in Kongo (Kinshasa), in Ruanda, Uganda und Burundi, zwischen Äthiopien und Eritrea oder entlang der angolanisch-kongolesischen Grenze deuten daraufhin, daß eine mit der Kolonialisierung entstandene Staatsstruktur hier und da zur Disposition steht. Bisher werden die damit verbundenen Konfrontationen nahezu ausschließlich gewaltsam ausgetragen. Dennoch - Jean Ziegler besetzt die schwarzafrikanischen Kulturen mehr denn je mit dem »Prinzip Hoffnung«.
FREITAG: Der Zusammenbruch des kommunistischen Osteuropa hatte in Afrika Anfang der neunziger Jahre eine ungeheure Hoffnung auf Demok
re Hoffnung auf Demokratisierung und Befreiung von westlicher Vorherrschaft geweckt. Wie sieht es einige Jahre später in der Realität der schwarzafrikanischen Gesellschaften aus - ist Afrika nicht aus dem Bewußtsein des Westens verschwunden?JEAN ZIEGLER: Letzteres wäre gleichgültig. Afrika gibt es. Afrika ist ein unglaubliches Konservatorium von Kulturgütern. Der Anthropologe Lévi-Strauss hat erklärt, es gibt einen dunklen Kern in allen Zivilisationen, in allen Menschengruppen, der wahrscheinlich Jahrtausende zurück liegt. Einmal wurde die Entscheidung getroffen, wo wir unsere sozialen Kräfte primär einsetzen. Die Europäer haben sie in der Primärakkumulation des Kapitals, in der Instrumentalität, in der Technologie eingesetzt, und haben dabei Unglaubliches geleistet. Dagegen haben die afrikanischen Gesellschaften auf dem Kontinent und in der Diaspora von allem Anfang an ihre vordringlichste Aufmerksamkeit der zwischenmenschlichen Beziehung gewidmet. Ihren Erklärungen in den Symbolsystemen - den Mysterien des existentiellen Zusammenlebens, des Sterbens, des Geborenwerdens - hat der afrikanische Teil der Menschheit seit Jahrtausenden eine ganz andere Priorität gegeben. Deshalb gibt es zwar eine Einheit der Welt, weil es ein und derselbe Planet ist, der im Universum umherschwirrt, aber es ist eine negative Identität. Es gibt zwei verschiedene Menschheiten. Eine afrikanische und eine westlich-europäische, weiße, die ganz andere Kollektivschicksale gewählt haben. Und - da haben Sie wahrscheinlich recht - die sich überhaupt nicht mehr verstehen. Die Weißen sagen, die Afrikaner sind nicht mehr in der Geschichte. Aber die sind in einer ganz anderen, vielleicht viel wichtigeren Geschichte. - Und meine Hoffnung ist, daß es uns westlichen Zivilisationsmenschen einmal gelingen wird, den Weg zurückzufinden zu diesen Konservatorien der kulturellen Werte des heutigen Afrikas.Eine Realität ist sicherlich auch die Frage nach den derzeitigen politischen und sozialen Bedingungen, unter denen viele Menschen auf diesem Kontinent leben ...Während der Periode des Kalten Krieges war Afrika ein strategisches Exerzierfeld der verschiedenen Großmächte. Das hat 1961 mit der Ermordung von Patrice Lumumba begonnen. Seit diesem ersten extrakontinentalen Konflikt der Weltgroßmächte auf afrikanischem Territorium haben sich diese Situationen ständig wiederholt. Man kann Guinea-Bissau nennen oder Angola. Von Beginn der sechziger Jahre bis in die neunziger Jahre hinein gibt es in Afrika einen Konflikt nach dem anderen, bei dem West und Ost aufeinander stoßen. Aber daraus zu schließen, daß es eine afrikanische Geschichte des Kampfes Kommunismus gegen Antikommunismus, Kommunismus versus Demokratie gegeben hätte, das wäre falsch. Die importierten Konflikte entsprechen Rationalitäten, die mit den Planetarmächten USA und Sowjetunion zu tun hatten, aber nichts mit den autochthonen afrikanischen Gesellschaftsprozessen.Gut, nach dem Ende des Kalten Krieges sagten die meisten afrikanischen Eliten, was alle dachten: Jetzt beginnt eine neue Epoche. Jetzt werden wir nicht mehr überdeterminiert durch die amerikanische, französische, belgische, sowjetische Strategie, jetzt endlich kann unsere Geschichte beginnen. Das war ein sehr großer Irrtum, weil die erhoffte Demokratisierung zum Beispiel in Gabun, Benin, Kongo-Brazaville oder Zaire nicht stattgefunden hat.Kein einziges Land Schwarzafrikas hat einen nennenswerten Binnenmarkt hervorgebracht. Die gelieferten Rohstoffe verlieren durch Ersatzstoffe an Bedeutung. Agrarprodukte werden in Europa gezüchtet - also eine schier endlose Kette, die man beliebig fortsetzen könnte. Inwieweit hat das mit den Bedingungen zu tun, unter denen die afrikanischen Gesellschaften Anfang der Neunziger ihre Hoffnung auf eine unabhängige Entwicklung einbrachten?Afrika ist für einen global denkenden, von Profitmaximierung beherrschten Kapitalisten total uninteressant. Die Ausnahme bilden einige von Stacheldrahtzäunen und Pri vatmilizen umgebene europäische Enklaven, in denen für den Westen nützliche Güter ausgebeutet werden. Aber das hat nichts mehr zu tun mit der Beherrschung von Nationalstaaten, mit der Unterwerfung neokolonialer Eliten oder mit ideologischem Krieg, mit gesteuerter Entfremdung also. Afrika ist ausgetreten aus der Beuteregion des globalisierten Killerkapitalismus. Das stimmt. Und es hat versucht, in den überlieferten Strukturen eine eigene Geschichte wiederzufinden. Aber nahezu 90 Prozent der 52 Staaten Afrikas und der Inseln sind akkulturative Produkte. So, als ob Sie in ein Kaufhaus gehen, sich einen Mantel umhängen, egal ob der paßt oder nicht, und sagen: So, jetzt habe ich eine Verfassung. Das heißt, weder in Senegal, noch im Tschad, noch in Burkina Faso, noch irgendwo existieren juristische beziehungsweise staatliche Formen, die im entferntesten den sehr komplexen interkommunitären, uralten Beziehungen entsprechen. Deshalb brechen diese postkolonialen Nationalstaaten auseinander. Das erscheint dann als reines Chaos. Für mich allerdings, also für jemanden, der etwas genauer hinsieht, ist es der Beginn von etwas sehr Wichtigem: die Wiederaufnahme einer vorkolonialen gesellschaftlichen Erfahrung.Das Gespräch führte Christoph BurgmerDas Interview wurde uns freundlicherweise von der Zeitschrift iz3w zur Verfügung gestellt.
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