„Aftersun“ von Charlotte Wells: So wahr wie ergreifend
Kino Die schottische Regisseurin Charlotte Wells erzählt mit ihrem Filmdebüt „Aftersun“ unheimlich eindrucksvoll und bewegend von der vielleicht letzten Urlaubsreise einer Tochter mit ihrem jungen – und depressiven – Vater
Eigensinnig und bittersüß wie die Erinnerung ist alles im Fluss in Charlotte Wells’ Aftersun, ihrem furiosen, mehrfach ausgezeichneten und von der internationalen Kritik zu Recht gefeierten Langfilmdebüt. Hier ist jede Szene, jede Einstellung beides zugleich: sinnliches Erleben und melancholisches Zurückblicken. Großaufnahmen von Ellenbogen, die sich leicht berühren, weiße Socken, die auf dem Balkongitter trocknen, Paraglider, die am verführerisch blau leuchtenden Himmel ihre Runden ziehen, das Wasser im Pool, das glitzert und kleine Wellen wirft.
Urlaube sind Orte der Sehnsucht, die in der Erinnerung stärker aufgeladen werden durch sinnliche Eindrücke, durch Gerüche, Geräusche, durch dieses Außerhalb-des-Alltags-Sein. D
des-Alltags-Sein. Das weiß die 1987 in Edinburgh geborene Regisseurin nur zu gut und verdichtet ihre teils assoziative, von eigenen Erfahrungen gespeiste Erzählung um eine Vater-Tochter-Beziehung. Die Idee zum Film, so Wells im Interview, sei aus alten Familienfotos entstanden, auf denen sie beeindruckt habe, wie jung ihr Vater damals aussah.Wie genau der Alltag von Calum (Paul Mescal), dem jungen Vater im Film, und seiner elfjährigen Tochter Sophie (Frankie Corio) aussieht, wird nur angedeutet. Was wir erfahren: Er hat sich von Sophies Mutter getrennt und scheint nicht gefestigt zu sein, wohl auch von Geldsorgen geplagt, sie wohnt bei der Mutter in Edinburgh. „Ich gehöre da nicht hin“, sagt Calum mit Blick auf die schottische Hauptstadt, für sie sei es die Heimat, sagt die Tochter. Er lächelt.Wir kommen mit den beiden in einem gesichtslosen Ferienresort an der türkischen Riviera an. Sie necken und lieben sich, sind zärtlich zueinander und werden einmal, als sie mit den Halbstarken, auf die Sophie ein Auge wirft, Billard spielen, sogar für Geschwister gehalten. Sie teilen sich ein Zimmer, er schläft auf einer schmalen Matratze, sie daneben im breiten Doppelbett. In einer sehr schönen Szene zieht Calum der schlafenden Sophie die Schuhe aus und deckt sie zu. Während die Kamera bei dem Mädchen im Bett bleibt, geht Calum auf den Balkon, zündet sich eine Zigarette an, dreht sich, tänzelt und macht kleine Tai-Chi-Bewegungen. „Ninja-Bewegungen in Zeitlupe“, nennt Sophie das, als sie sich einmal fragt, warum ihr Papa manchmal so komisch sein muss.Sommer ohne SmartphonesAlles in Aftersun erscheint beispiellos natürlich und unmittelbar, ein Effekt, der den intimen, zwischendurch immer wieder kontemplativen Kamerabewegungen (toll: Gregory Oke) geschuldet ist. Wichtig ist aber auch, dass Wells ihren Film in den 1990er Jahren ansiedelt, der Zeit ihres eigenen Erwachsenwerdens. Das Leben in Aftersun ist also noch nicht von Smartphones bestimmt, Calum und Sophie haben nur sich und drehen sich um sich; zum Telefonieren geht es in die Telefonzelle.Eingebetteter MedieninhaltGleichsam als medialer Geschichtsverweis werden grobkörnige Videoaufnahmen eingeschoben, die Sophie mit dem Camcorder ihres Vater aufnimmt. Zu Filmbeginn, als noch nicht so recht klar ist, wo und wann wir uns gerade befinden, ist eine dieser Aufnahmen zu sehen. Sophie filmt Calum und macht sich aus dem Off über sein Alter lustig, er sei 130 und würde 131 Jahre alt werden. Ihrer Frage, was er mit elf von seinem zukünftigen Ich dachte, weicht er drucksend aus. Durch Aufnahmen wie diese und eine wiederkehrende Sequenz, in der Calum zu Stroboskoplicht tanzt, öffnet sich eine bewusst nur angerissene zweite Erzählebene. In kurzen Szenen ist die mittlerweile rund 30-jährige Sophie zu sehen, einmal vor einem Fernsehen, auf dem sie die alten Bänder anschaut.Ob in den per Camcorder festgehaltenen Erinnerungsfetzen oder dem unmittelbaren Urlaubserleben: Jedem der Bilder von Aftersun ist eine Flüchtigkeit eingeschrieben, die dem Film eine mitunter schmerzliche Melancholie verleiht. Wells erzählt von Vergänglichkeit an einem Ort des Übergangs, im übertragenen wie im konkreten Sinne.Es ist – und darin steckt so viel Schönheit wie Traurigkeit – einer der letzten, wenn nicht der letzte Sommer, an dem zwischen Vater und Tochter alles wie gehabt ist. Ihren Umgang miteinander inszeniert Wells mit unglaublicher Sensibilität. Unterdessen beobachtet Sophie auch interessiert die Gesten der jungen, Alkohol trinkenden Erwachsenen, ihre (auch sexualisierten) Berührungen. Man muss nicht vom Ende der Unschuld sprechen, um zu sehen, dass hier eine Kindheit im Begriff ist, in eine andere Phase in Richtung Erwachsenwerden überzugehen. Später kommt es zum schüchternen Kuss mit einem Jungen in ihrem Alter, den Sophie an einem Motorrad-Simulator kennenlernt.Wells blickt oft durch die Augen des Mädchens auf das Geschehen im Resort, beim Wasserball, bei den Animationen mit einem lustigen Macarena-Auftritt oder beim Ausflug in ein Schlammheilbad. Calum, der liebevolle Vater, scheint in unbeobachteten Momenten von Sorgen geplagt, die die Tochter noch nicht versteht. Wer kennt es nicht, dieses Gefühl, nicht zu wissen, was in den eigenen Eltern wirklich vorgeht beziehungsweise vorging?Mit ihren zwei fantastischen Hauptdarsteller*innen beschert die schottische Regisseurin diesem starken Kinojahr einen weiteren Höhepunkt. „We know the perfect place“, steht auf einem Schild an einem Berghang, zu dem das Duo reist. Ihr Film findet den perfekten Platz in flüchtigen Momenten, und das ist so unglaublich wahr wie ergreifend.Placeholder infobox-1
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