Aggressiv inszenierte Einheitsmeinung

Gastkommentar Altersteilzeit wird als Modell von gestern denunziert

Mit beeindruckender Entschlossenheit kämpften seit Wochen mehrere hunderttausend Beschäftigte der Metallindustrie für eine Neuregelung der Altersteilzeit. Konfliktgegenstand war ein tarifvertragliches Modell, das - unterstützt durch die Bundesagentur für Arbeit - das vorzeitige Ausscheiden für maximal fünf Prozent einer Belegschaft mit der Übernahme junger Beschäftigter in ein festes Arbeitsverhältnis verbindet.

Erstaunlich an dieser Auseinandersetzung: Die Entschlossenheit, mit der Beschäftigte aller Altersgruppen für diese betriebliche Beschäftigungsbrücke in den Konflikt gingen. Und die nahezu einheitliche Ablehnungsfront, auf die sie in der Gesellschaft stießen. Angesichts einer alternden Bevölkerung und des drohenden Fachkräftemangels, so die aggressiv inszenierte Einheitsmeinung, sei ein längerer Verbleib im Betrieb unumgänglich und ein vorzeitiger Ausstieg schlicht von gestern. Kaum Erwähnung fand hingegen, dass in der beeindruckenden politischen Widerständigkeit etwas zum Ausdruck kam, was in der öffentlich inszenierten Empörung mit penetranter Hartnäckigkeit ausgeblendet bleibt: Die Brutalisierung der modernen Arbeitswelt.

Was in der Debatte schlicht fehlt, ist für die Warnstreikenden in den global agierenden Metall- und Elektrounternehmen tagtäglich präsent. Dass die jährlichen Exportweltmeistertitel teuer erkauft werden. Und dass die Arbeitnehmer es sind, die mit ihrer Gesundheit den Preis dafür entrichten. Die Produktivitätssprünge resultieren aus entgrenzten Arbeitszeiten, kurzzyklischen Arbeitsabläufen und der permanenten Drohung, auch nach Rekordgewinnen dem Personalabbau geopfert zu werden. Für die Beschäftigten stehen das Ende der Altersteilzeit und die Rente mit 67 demnach weniger für längeres Arbeiten als für Gesundheitsverschleiß, für Arbeitslosigkeit mit Hartz IV am Ende des Arbeitslebens und gekürzte Renten.

Und die Ablehnung in der politischen Klasse? Ihre Repräsentanten spüren - das Altersteilzeit-Projekt als öffentlich geförderte Generationensolidarität steht für das Gegenteil von dem, was bis heute als Zukunftsprojekt für Deutschland hochgehalten wird: Die Agenda 2010. Die setzt auf eine Unterordnung der Lohnabhängigen unter die Modernisierungszwänge der globalen Ökonomie und die Privatisierung der Folgekosten in Form von Arbeitslosigkeit und Rentenabschlägen. Die öffentlich geförderte Altersteilzeit folgte einer entgegengesetzten Logik.

Folgerichtig bekundete Kanzlerin Merkel für die Union ihr striktes Nein zur Altersteilzeit. Weniger eindeutig die historisch authentische Agenda-Partei SPD. Sie quält sich öffentlich mit ihrem Politikerbe. Während noch Arbeitsminister Müntefering die Altersteilzeit als Fortsetzung der Vorruhestandspolitik mit anderen Mitteln geißelte, nutzte sein Nachfolger Olaf Scholz die Festlegung der Kanzlerin für eine Kurskorrektur der SPD-Spitze. Seither setzt die SPD bei Altersteilzeit und Rente mit 67 auf ein eindeutiges: Sowohl als auch!

Gleichgültig, ob der Absturz bei den Wählern oder die Erfolge der Linken ausschlaggebend waren - die Korrektur der SPD und ihre Annäherung an die Gewerkschaften sind zu begrüßen. Der rasche Applaus führender Gewerkschafter dürfte Balsam für die geschundene sozialdemokratische Seele sein. Gut, in schweren Zeiten verlässliche Helfer zu haben. Doch neue Glaubwürdigkeit erhält die SPD nicht durch politische Last-Minute-Schwenks, sondern nur durch eine strategische Abkehr von der Agenda 2010. Hartz IV und die Rente mit 67 stehen für eine Politik der sozialen Demontage. Die hat den Sozialdemokraten Geschlossenheit und Identität geraubt. Glaubwürdige Neuorientierung dürfte ohne grundlegenden Politikwechsel auf diesen Feldern nicht zu haben sein.

Hans- Jürgen Urban ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall

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