Elf Tote sind von offiziellen Quellen bestätigt, Schätzungen von Ärzten vor Ort gehen sogar von mehr als 20 Opfern aus. Und die bei dem jüngsten Gewaltausbruch in Kairo diese Woche verwendeten Waffen lassen wenig Zweifel an ihrer Herkunft: Neben Molotow-Cocktails und Stichwaffen waren auch Schrotkugeln und Tränengas-Granaten im Einsatz, die zur Ausrüstung der "Central Security Forces" des Innenministeriums gehören. Nun beginnen erneut Spekulationen, wer in diesem Machtkampf kurz vor der geplanten Präsidentschaftswahl in Ägypten die Fäden zieht und wem das Chaos nützt.
Zum ersten Mal seit den Straßenkämpfen in der Nähe des Parlamentes im Dezember wurde scharf geschossen. Neun der elf bestätigten Todesopfer starben nac
tarben nach Angaben von Ärzten vor Ort durch scharfe Munition, in den meisten Fällen durch Kopfschüsse. Uniformierte Kräfte des Militärs sahen Zeugen zufolge während der Eskalation tatenlos zu und griffen erst ein, als die Gewalt abebbte. "Der Eingriff der Armee kam Stunden zu spät", erklärt Amnesty International in einem Bericht. "Es scheint keinen Willen innerhalb des Militärrates zu geben, derlei tragische Ereignisse zu stoppen." Drei von vier staatlichen Krankenhäusern in der Umgebung schlossen außerdem zeitweise ihre Türen für die Verwundeten. Nur das Krankenhaus Al-Shefa behandelte durchgehend. Einige der Demonstranten und Verletzten wurden noch auf dem Gelände des Krankenhauses angegriffen.Instabilität von Vorteil?Die Demonstration begann als Sit-In salafistischer Demonstranten. Nach einem ersten Angriff in der Nacht von Samstag auf Sonntag erhielt sie jedoch rasch Unterstützung aus verschiedenen politischen Lagern. Vor allem die revolutionären Jugendgruppen fanden sich schnell ein, um die angegriffene Demonstration zu stärken. So befand sich unter den Toten von Mittwochmorgen auch mindestens ein Demonstrant der Jugendbewegung 6. April, die 2008 in Solidarität mit streikenden Arbeitern in der Industriestadt Mahalla-al-Koubra gegründet wurde.Nun erheben die Demonstranten schwere Vorwürfe gegen den Militärrat: Angeblich hetzt er bewaffnete Schläger auf Demonstrationen, um Chaos zu schüren. Auch wenn der Militärrat wiederholt erklärt hat, dass er die Macht nach einer möglichen Stichwahl im Juni abgeben will, erwarten viele politische Analysten, dass die Militärs den Übergang zur Demokratie nur dann gewähren lassen, wenn sie ihre Privilegien in die neue Ära retten können. Anhaltende Instabilität käme ihnen dabei zugute.Nach dieser Deutung lässt sich die Gewalt der vergangenen Tage in die Kette der letzten Gewaltausbrüche einordnen: das Massaker vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehens im Oktober, die tödlichen Straßenkämpfe im November und Dezember, die verheerenden Ausschreitungen im Stadion von Port Said mit 73 Toten. In allen Fällen ließen die Sicherheitskräfte die Gewaltausbrüche entweder bewusst eskalieren oder waren selbst für die Gewalt verantwortlich.Schwindendes Vertrauen"Entweder ich oder das Chaos." Viele glauben, das bekannteste Zitat Mubaraks vor seinem Sturz könnte kurz vor der Präsidentschaftswahl zur Devise des Militärrates werden. Das eint die konträren politischen Lager in ihrer Ablehnung des Militärrates. Vier Präsidentschaftskandidaten haben ihren Wahlkampf aus Protest gegen die Gewalt vorübergehend eingestellt: Hamdeen Sabahi und Khalid Ali aus dem linken Lager, der als moderat geltende Ex-Muslimbruder Abdel-Moneim Abul-Fotouh, sowie der Kandidat der Muslimbruderschaft Bruderschaft, Mohamed Morsi.Auch ein für Mittwoch geplantes Treffen von Vorsitzenden der politischen Parteien mit dem Militärrat wurde von einem Großteil der eingeladenen Politiker abgesagt. Diskutiert werden sollte die Eskalation der Gewalt und die vorübergehende Aussetzung der Parlamentsitzungen durch den Parlamentssprecher und Muslimbruder Saad al Katitni Anfang der Woche. Mit diesem Schritt wollen die Muslimbrüder, die fast die Hälfte der Parlamentssitze halten, den Rücktritt der Militärrats-nahen Regierung erzwingen. Nach dem jüngsten Gewaltausbruch scheint die Lösung dieser politischen Blockade weiter entfernt als zuvor. Das Vertrauen in den Militärrat, die Übergangsphase zum Wohle des Landes zu gestalten, scheint bei vielen Politikern zu schwinden. "Massaker dieser Art werden weiterhin passieren, solange der Militärrat das Land im Griff hält", erklärt der jüngste der Präsidentschaftskandidaten, der 40-jährige Menschenrechtsanwalt Khalid Ali.Friedensnobelpreisträger Mohamed el-Baradei kommentiert die Ereignisse mit den Worten: "Das Massaker vor dem Verteidigungsministerium zeigt, dass die Regierung unfähig ist, die Bürger zu schützen oder unter einer Decke mit den Schlägern steckt. Ägypten geht den Bach herunter." Er gründete kürzlich die Partei Hizb al Dostour ("Verfassungspartei"), zog seine Präsidentschaftskandidatur aus Protest gegen die anhaltende Dominanz des Militärs jedoch zurück.Betonung auf StabilitätAn einem Marsch zum Schauplatz der Ereignisse mit dem erkärten Ziel, die Protestierenden zu schützen, nahmen am Mittwochabend Vertreter des ganzen politischen Spektrums teil – auch die Präsidentschaftskandidaten Khalid Ali, Hamdeen Sabahi und Abdel-Moneim Abul-Fotouh und der Vorsitzende der Salafisten.Doch in die Verurteilung des Militärs stimmen nicht alle ein. Präsdidentschaftskandidat Amr Moussa, altgedienter Diplomat und Ex-Außenminister unter Mubarak, hält sich bedeckt. "Nieder mit der Herrschaft des Chaos!", ist seine Folgerung der jüngsten Ereignisse – eine Abwandlung des meist gehörten Slogans der Protestbewegung: "Nieder mit der Herrschaft des Militärrates!" Die Militärs selbst erklärten in einer Pressemitteilung am Donnerstag, die Eskalation der Gewalt sei das Werk von Unruhestiftern, die den Übergang zur Demokratie verhindern wollen.In den Umfragen liegt Moussa mit 40 Prozent weit vor dem derzeit zweitplatzierten Kandidaten Abdel-Moneim Abul-Fotouh mit 27 Prozent. Punkten kann der Favorit nicht nur mit seine Erfahrung nach 45 Jahren einer diplomatischen Karriere, sondern auch mit seiner Betonung von "Stabilität". Dies kommt an bei einer wirtschaftlich gebeutelten Bevölkerung. Die ökonomische Unsicherheit und die womöglich von Mitgliedern des alten Regimes angestiftete Gewalt könnten dazu führen, dass letztlich ein Mann des alten Regimes den höchsten Staatsposten einnimmt.