Aufgewachsen in einem kleinen kirgisischen Dorf, wurde ich früh mit Frauenraub konfrontiert, meine Mutter drohte mir gerne bei Gelegenheit: "Wenn du kein braves Mädchen bist, wirst du geraubt wie die Tante K. oder Nachbarin A." Den wahren Inhalt dieser Erziehungsmaßnahme verstand ich Jahre später, als ich 1995 die Entführung einer Freundin "live" miterlebte. Damals teilte ich mit ihr ein Zimmer im Studentenwohnheim der Universität in Bishkek, aus dem sie eines Tages herausgeprügelt und wie ein Sack ins Auto geworfen wurde. Die Frau wehrte sich und schrie. Die zwei Männer, die sie ins Auto gedrängt hatten, verpassten ihr einen Fußtritt in den Bauch und Faustschläge ins Gesicht. Ein dritter Mann saß am Steuer. Die Straße war voll von Leuten, an der Haltestelle wartete eine große Menschenmenge auf die Straßenbahn. Keiner drehte sich um oder schenkte der Szene gar Beachtung, nicht einmal der Verkehrspolizist, der den Feierabendverkehr regelte. Als ich den Polizisten auf den Vorgang aufmerksam machte, zuckte er gelangweilt mit den Schultern und erwiderte: "Was wollen Sie, junge Frau, Sie wissen doch, dass es hierbei um unsere Tradition geht."
Tatsächlich wird "Ala Katschu" der Frauenraub von modernen Kirgisen durch Traditionen oder Islam gerechtfertigt. Die Wahrheit sieht allerdings anders aus als die Vorstellung vieler Kirgisen. Mohammed verwarf im Koran den Frauenraub oder die Heirat durch Gefangennahme. Auch in kirgisischen Traditionen hat der gewaltsame Frauenraub eigentlich keinen Platz. In Nomadenzeiten waren andere Formen der Eheschließung verbreitet, zum Beispiel durch Vertrag zwischen den Familien oder durch den Kauf der Braut - "Kalym". Frauenraub kam demnach nur vor, weil entweder der hohe Brautpreis oder die Kosten einer Hochzeitsfeier die Mittel der Eltern überstiegen, oder weil soziale Unterschiede einer Eheschließung im Wege standen. Eine Bedingung musste allerdings immer stimmen: die Einwilligung der zu raubenden Braut. Im Falle des Raubs gegen den Willen der Frau galten die Rechte der Betroffenen und ihrer Sippe als verletzt, deshalb kam es hierzu nur sehr selten, denn schließlich konnte der Raub blutige Fehden nach sich ziehen. Um diesen kriegerischen Auseinandersetzungen vorzubeugen, wurde der Übeltäter von seiner eigenen Sippe aufs Strengste bestraft, bis hin zur Todesstrafe.
Die Ursache der heute bei den Kirgisen vorherrschenden falschen Vorstellung vom Frauenraub, die körperliche Misshandlung und Vergewaltigung der Frau beinhaltet, liegt in der kirgisischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das sozialistische Regime der Sowjetunion betrachtete kirgisische Traditionen, die sich aus den Nomadenzeiten erhalten hatten - abgesehen von der Tanz- und Gesangfolklore - als Überreste einer patriarchalischen Gesellschaft, die im Staat der Arbeiter und Bauern nichts zu suchen hätten. Entsprechend wurde die Ausübung jeglicher Tradition rigoros bekämpft. Schon der Gebrauch der kirgisischen Sprache in Anwesenheit der russischen Obrigkeit konnte eine Anklage nach sich ziehen, gegen die sowjetische sozialistische Ordnung zu sein und Separatismus zu betreiben. Das Ende der Sowjetunion und die daraus folgende Unabhängigkeit Kirgisistans im Jahre 1991 brachte eine verstärkte Suche nach der kirgisischen Identität und vergessenen Traditionen mit sich, von denen viele in völlig veränderter Form wieder aufgenommen wurden und mit den tatsächlichen Gebräuchen der Ahnen wenig Gemeinsamkeit hatten.
Kam der Brautraub früher nur in bestimmten Gegenden des kirgisischen Nordens vor - der Süden kannte dank Seidenstraße und dem damit verbundenen regen Handel schon seit dem frühen Mittelalter kaum noch Nomadenleben und Frauenraub - erlebte diese Art der "Eheschließung" seit Beginn der neunziger Jahre mit ungewohnter Brutalität und Rücksichtslosigkeit eine Renaissance im ganzen Land. Sicher war - wie schon zu Nomadenzeiten - die schlechte wirtschaftliche Situation, die keinen finanziellen Rahmen für den bei Kirgisen üblichen Brautkauf und die standesgemäße Hochzeitsfeier ließ, auch ein Grund der Wiedereinführung des Brautraubs, aber die notwendige Einwilligung der Frau ist hierbei offensichtlich ein "Detail", das die Männer heutzutage beflissentlich übersehen.
In dem kleinen kirgisischen Dorf Karal-Döbö erlebte ich vor zwei Jahren einen solch brutalen Frauenraub hautnah. Eine junge Frau wurde dabei nicht auf dem üblichen Wege auf der offenen Straße, sondern - Gipfel der Frechheit - im Hause Ihrer Eltern geraubt. Der "Bräutigam" hatte schon vorher ab und an einen Blick auf die Schülerin geworfen und beschloss nun, der Zeitpunkt zum Handeln sei gekommen, weil die Angebetete nach ihrem Abitur in die Stadt ziehen wollte. Da das Mädchen aus Angst vor einem Raub schon gar nicht mehr aus dem Haus ging, wusste sich der "Räuber" zu helfen, indem er mit ein paar Freunden ins Haus schlich, die Eltern des Mädchens mit Gewalt in einem abgelegenen Schuppen einsperrte und dann sein "Objekt der Begierde" gemächlich und ohne Hast durch das Dorf wegtrug. Der Tag des Raubes war bereits im Voraus bestimmt, auf dem Hof des Mannes warteten schon alle Verwandten, auf gedeckten Tischen stand das Festessen, im Kessel kochte ein Lamm.
Im Haus selbst ging es nicht so friedlich zu. Die Braut wurde einer stundenlangen Psycho-Folter ausgesetzt, indem ihr mit verschiedenen Verwünschungen über späteres Unglück und Unfruchtbarkeit gedroht wurde. Als weiteres Druckmittel gegen eine mögliche Flucht der Braut legte man zuerst Brot und dann die Großmutter des Hauses vor die Türschwelle: beides darf aus Ehrfurcht vor der Grundnahrung beziehungsweise vor dem Alter nicht überschritten werden. Das Mädchen tat es trotzdem, wurde aber wieder zurück ins Haus gezerrt und vom Bräutigam "für die schlechten Manieren" bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen und vergewaltigt - "Stute zähmen" wird das bei den tierlieben Kirgisen genannt. Am Ende war das Mädchen "gezähmt" und fügte sich in ihr Schicksal. Der Rest ist nach dem üblichen Traditionsmuster verlaufen. Es gab bei den Brauteltern die "Aldyna tüschü": es kamen einige Angehörige des Bräutigams, die symbolisch um Verzeihung für den Raub baten und bei dieser Gelegenheit die Brauteltern aus dem Schuppen befreiten. Zur Hochzeit der Tochter wurden sie allerdings nicht eingeladen, die Brautmutter durfte lediglich einige Tage nach dem Fest ein paar Kissen, Decken und selbstgefertigten Teppiche für die Mitgift vorbeibringen.
"Es gab keine andere Lösung," sagte der "Bräutigam", als ich nach den Gründen des Raubes fragte. Das Mädchen sei nicht aus ihrem Haus zu locken gewesen, seine eigenen Eltern seien alt und bräuchten dringend eine Pflegerin, und am Hof fehle ein tüchtiges Weib. Da musste also eine Frau her, und zwar nicht irgendeine, sondern eine nach seinem Geschmack. Dass sie sich beim Sex gewehrt habe, sei ja nun bekanntlich die Pflicht jeder anständigen Kirgisin. "Und ist es nicht unsere Tradition, die Frauen mit Gewalt zu rauben und zur Ehe zu zwingen? Auch der berühmte Mongolenführer Tschingis Khan war die Frucht einer Raubehe." Aber wenn seiner Frau die Ehe mit ihm immer noch so zuwider sei, könne sie jederzeit gehen, er halte sie nicht zurück.
Wohin aber sollte die Geraubte nach dieser Schandtat gehen? Zu groß sind die Hindernisse, die bei diesem Schritt zu bewältigen sind, abgesehen von körperlichen und seelischen Schäden. Die Frauen, die nicht Willens sind, mit ihren Vergewaltigern zu leben, werden oft von ihren eigenen Familien verstoßen und geächtet, da sie die vermeintliche Tradition gebrochen hätten. In Kirgisistan ist der Bruch mit der eigener Familie in jeder Hinsicht eine Tragödie. Auch die Öffentlichkeit bestraft die geraubten Frauen. Zeit ihres Lebens werden sie den "Makel" nicht los. Eine erneute Eheschließung ist erschwert, da auch der heiratende Mann mit seiner Familie Schwierigkeiten bekäme, wenn er eine "Abtrünnige" wählt. Die große Mehrheit der den Raubehen entflohenen Frauen verdingt sich Rest ihres Lebens als inoffizielle Zweitfrau eines verheirateten Mannes ohne irgendwelche Rechte (kirgisisch "Tokol" genannt).
Andererseits ziehen die Frauen, die ihre "Räuber" heiraten, oft kein besseres Los. Nach der Hochzeit kann sich die Frau ihre Akzeptanz in der Familie nur durch Gebären von Kindern (vorzugsweise Söhnen) erarbeiten, denn ohne Kinder gilt eine Kirgisin nicht viel. Nicht von ungefähr gibt es zahlreiche kirgisische Sprichwörter, die die Würde der kinderlosen Frauen aufs Äußerste verletzen, so heißt es zum Beispiel: "Die Ziege mit Nachwuchs ist mehr wert als eine kinderlose Frau" ("Tuubagan katyndan ulaktuu etschki artyk"), oder : "Solange die Stute kein Fohlen hat, nennt man sie Füllen, solange die Frau kinderlos ist, nennt man sie Schwiegertochter" ("Bee tuumajintscha baital aty kalbajt, katyn tuumajintscha kelin aty kalbajt"). Am Ende sind die Kinder auch keine Garantie gegen eine menschenunwürdige Behandlung in der Familie des Ehemannes. Die geraubte Frau lebt meistens in der Angst vor der Zukunft. Jederzeit kann ihr Mann sie und die gemeinsamen Kinder ohne irgendeine Versorgung auf die Straße setzen. Die kirgisische Trauung berechtigt die Frau nicht, für sich oder ihre Kinder Unterhalt zu fordern, heißt es in diesen Fällen von Seiten des Staates. Denn beim Frauenraub gehen die Männer meistens auf Nummer sicher und heiraten kirgisisch-traditionell - ohne die vorgeschriebene standesamtliche Eintragung - schließlich kann man ja nicht wissen, ob da noch später eine Andere, Bessere zum Rauben kommt.
Die Zahl der verstoßenen Frauen und unversorgten Kinder nimmt in Kirgisistan jedes Jahr stark zu, so dass das kirgisische Parlament in regelmäßigen Zeitabständen die Polygamie als Problemlösung in Erwägung zieht. Die Frau hätte so ein "gesicherteres" Auskommen und der Staat eine Sorge weniger. Auf diese Weise versucht der Staat, die Folgen einer die Würde der Frau diskriminierenden Unsitte durch eine andere zu ersetzen, ohne die Ursachen des Frauenraubs zu bekämpfen oder die Täter zu bestrafen. Dabei gäbe es bereits genügend gesetzliche Mittel für eine direkte Prävention und für Sanktion des Frauenraubs. In der kirgisischen Verfassung wird der gewaltsame Brautraub als Freiheitsdelikt erfasst und das Recht der Frauen auf ihre körperliche und seelische Integrität betont. Auch die von Kirgisistan anerkannte UNO-Konvention fordert die Abschaffung aller Diskriminierungsformen gegen die Frau. Und gemäß dem Schlussdokuments der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking 1995, in dem die Frauenrechtsverletzungen als Menschenrechtsverletzungen verstanden werden, sollte Kirgisistan Strafverfolgungsmaßnahmen gegen den Frauenraub ergreifen.
Aber Gesetze helfen nicht weiter, wenn der Wille nicht da ist. Der Frauenraub wird trotz seiner wachsenden Tendenz in Kirgisistan totgeschwiegen, obwohl es immer häufiger zu "Unfällen" beim Frauenraub kommt. Beim Besuch der nordkirgisischen Stadt Karakol vor einigen Jahren hörte ich während einer Beerdigung von solch einem "Unfall". Eine 19-jährige Frau war während der "Raubfahrt" aus dem Auto gesprungen und unter die Räder eines anderen, vorbeifahrenden Fahrzeugs geraten; anscheinend war die Angst vor der bevorstehender Tortur viel größer als jede Lebensgefahr. Der "Räuber" und seine Mittäter kamen vor Gericht, wurden am Ende aber freigesprochen; schließlich habe die Frau ihren Tod selbst verursacht. Dass sie vor vielen Zeugen in der Mitte einer Kleinstadt mit Schlägen ins Auto hineingeprügelt wurde, fand keine Erwähnung.
Die geraubten Frauen kommen meistens vom Lande und stammen aus ärmlichen Verhältnissen. Beim Raub von Frauen aus gut situierten Familien würden die Männer Gefahr laufen, aufgrund des Einflusses dieser Familien von der kirgisischen Rechtsprechung doch belangt zu werden. Aber die geraubten Frauen aus ärmlichen Verhältnissen finden keine Aufmerksamkeit - weder innerhalb noch außerhalb Kirgisistans. Obwohl die Bekämpfung der geschlechtsspezifischen Gewalt längst in den allgemeinen entwicklungspolitischen Diskurs über verantwortungsvolle Regierungsführung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte integriert ist, spielt das Schicksal von vielen misshandelten und vergewaltigten kirgisischen Frauen bei der Vergabe von Krediten und Entwicklungshilfen von Seiten des Westens immer noch keine Rolle. Solange die internationale Gemeinschaft die großzügigen Finanzspritzen an Kirgisistan nicht unter der Bedingung der strikten Einhaltung der Menschen- und somit Frauenrechte vergibt, solange die kirgisische Gesellschaft den Frauenraub tabuisiert und diese Gewalt politisch nicht thematisiert, solange der Staat sich vor der Verantwortung versteckt, wird sich die Situation der Frauen in Kirgisistan in absehbarer Zeit nicht ändern.
Nazira Heinrich lebte mit ihrer Familie zuerst in der kirgisisch-usbekischen Grenzstadt Osh, später in der kirgisisch-tadshikischen Grenzsiedlung Suljukta. 1996 wanderte sie nach Deutschland aus, wo sie an den Universitäten Mainz und Koblenz-Landau Pädagogik, Politikwissenschaft und Geschichte studierte. Zur Zeit arbeitet Nazira Heinrich als Koordinatorin für Frauenprojekte an der Universität Kaiserslautern.
Das Phänomen Frauenraub ist sehr alt und fand sich bereits im Altertum bei fast allen Völkern. Der Raub von Frauen war immer dort naheliegend, wo Frauen fehlten oder wo Vielweiberei Sitte war. Hochzeitsbräuche in verschiedenen Kulturen deuten darauf hin, dass der Frauenraub sogar älter ist als die mit Einwilligung der Eltern gestiftete Eheschließung. Ein altes Dokument des Frauenraubs ist das Alte Testament. Anlässlich des Weinbergfestes von Schilo forderte der Efraim-Stamm nach Richter 21 die Benjaminiter auf: "Geht hin und legt euch in die Weinberge dort auf die Lauer! Wenn ihr dann seht, dass die Töchter Schilos herankommen, um in den Reigen zu tanzen, dann kommt aus den Weinbergen hervor, und jeder von euch soll sich von den Töchtern Schilos eine Frau rauben. (...) Die Benjaminiten machten es so."
Nicht einmal die edlen Hellenen machten Halt vor dem Frauenraub, schließlich war auch der griechische Göttervater Zeus in verschiedenen tierischen Gestalten ein notorischer mehrfacher Frauen- und manchmal - in gleichgeschlechtlicher Liebe entflammt - sogar Männerräuber, wie die Beispiele der schönen Europa und des Jünglings Ganymed zeigen. Dem göttlichen Vorbild folgend, nahm nur die griechische Führerschaft bei ihren Kolonialgründungen die Familien mit. Der Rest von kriegstauglichen Männern konnte erwarten, dass sie an ihrem neuen Zielort nicht nur Land für ihren Lebensunterhalt, sondern auch die Frauen zum Rauben vorfinden würden. Der Frauenraub war in der antiken Welt so sehr üblich, dass er zu Herodots Zeiten nicht mal mehr als Kriegsgrund galt. Die Eroberer und kulturellen Nachfolger der Griechen, die Römer, waren nicht weniger zimperlich mit den Frauen. Das bekannteste geschichtliche Beispiel hierfür ist der Raub der Sabinerinnen. Auch die Neuzeit hat in Europa wenig Veränderungen im Frauenraub gebracht. In England gab es sogar ein Gesetz zum Frauenraub, demnach konnte vor 1653 jeder Engländer eine Erbin im Kindesalter rauben, vergewaltigen und zur Ehe zwingen; das Gesetz sah ihn anschließend als legitimen Ehemann an, als Lohn erhielt er noch den Besitz seines Opfers. 1653 wurde das Gesetz geändert, aber nicht zum Schutz des Opfers, sondern nun wurde der Staat an der Beute beteiligt. Die Täter konnten zwar ins Gefängnis gebracht werden, allerdings fiel die Hälfte des Besitzes der missbrauchten Mädchen jetzt an den Staat.
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