A
Aneignung Vor zwei Jahren begann das Pariser High-Fashion-Label Vetements damit, das Rad der Kommerzialisierung von Arbeiterkulturen ein wenig weiter zu (über-)drehen, indem es T-Shirts, die in Design und Material exakt dem entsprachen, was der DHL-Paketbote zur täglichen Arbeit trägt (inklusive Original-Logo), für etwa ein halbes Monatsgehalt des besagten Auslieferers verkaufte.
Die neueste Entwicklung in diesem Segment besteht nun darin, Taschen herzustellen, die Discounter-Plastiktüten nachempfunden sind. Dieser Kunstgriff, das früher einmal als „Türkenkoffer“ ➝ stigmatisierte Utensil einer vermeintlichen Unterschicht zum Statement der Ultradistinktion für die Supereingeweihten emporzuheben, bekommt nun von allen Seiten großes Lob. Vertreter von Nachhaltigkeitsbewegungen freuen sich darüber, weil man eine Edeka-Tüte für 1.000 Euro ja nicht nach einmaliger Benutzung ins Meer werfe, und Freunde des Poststrukturalismus sind ganz entzückt angesichts dieser Dekonstruktion des Markenbegriffs und der Vermengung von High und Low. Der Paketbote hat vermutlich andere Sorgen. Tilman Ezra Mühlenberg
Arbeitstasche Sehr verehrte Damen und Herren, Sie glauben es nicht, die Aldi-Tüte ist so viel mehr als eine profane Einkaufstasche! Sie ist mein Universalverunsicherungsmittel. Vieles in der Geschäftswelt beruht nicht auf Können, sondern auf Markenpräsentation. Wer trägt welche Anzüge, Schuhe, Accessoires – und vor allem: Wie teuer sind die? Neid und Missgunst müssen Sie da aber immer einkalkulieren, und so können die schweineteuren Manschettenknöpfe zu echten Manschetten werden, wenn Sie bei Ihrem Geschäftspartner in Verruf kommen, sein Geld auf dem Ku’damm zu verbrennen.
Es bieten sich daher simple Tricks an. Ein bewährter Trick ist das Mitführen einer Aldi-Tüte. Immer dann, wenn ich in einem Meeting mein Gegenüber in grundfester Weise verunsichern will, nutze ich als Arbeitstasche eine Aldi-Tüte. Der Schock könnte größer nicht sein, gar Mitleid (➝ Dittsche) schlug mir schon entgegen. Satte Honorare! Aber, psst, verraten Sie es nicht weiter! Viel Erfolg beim Ausprobieren! Jan C. Behmann
B
Beşiktaş Hier ein kleiner Bericht aus einer Welt, die immer mehr aus unseren Augen verschwindet. Es ist eine Welt, in der Fußballfans in der Kurve stehen und nichts anderes im Kopf haben als die Frage, wie man die Fans des Gegners zur Weißglut treiben kann. Von dieser Welt wird nur noch das rituelle Absingen von Zieht den Bayern die Lederhosen aus übrig bleiben, eine harmlose Reminiszenz an eine Zeit, die zum Beispiel dieses kannte: Als am 17. September 1997 der türkische Verein Beşiktaş Istanbul damals noch ins Olympiastadion zum FC Bayern kam, hielten viele Fans Aldi-Plastiktüten in die Höhe und ein Banner mit der Aufschrift „Aldi grüßt Kunden“. Dazu sangen sie: „Ihr könnt zum Aldi fahren“. Es gab fast einen diplomatischen Eklat, der nur dadurch verhindert werden konnte, dass drei Tage später die Fans des 1. FC Köln stolz verkündeten: „FC-Fans kaufen bei Aldi“. Wenig später wurde Aldi übrigens auch bei den urbanen Eliten cool, vor allem das Olivenöl galt als unschlagbar, brauchte man natürlich keinem Türken zu sagen. Michael Angele
D
Dittsche So wie Hartz IV nicht ohne Altkanzler Schröder denkbar ist, ist auch der arbeitslose Alltagsphilosoph Dittsche alias Olli Dittrich nicht ohne Bademantel, Jogginghose, Schumiletten und eben nicht ohne Aldi-Tüte denkbar. Wie sonst sollte er die Pflandflaschen in Ingos Imbissbude in Hamburg-Eppendorf transportieren und neue holen, um sie dann nie, absolut niemals, zu bezahlen? Wie, wenn nicht mit dem vertrauten Begleiter aus feinstem Plastik, sollte der Hobbydozent sein Bild-Zeitungswissen hinausschwadronieren?
In Folge 242 trägt Dittsche überraschenderweise einen aldifarbenen Trainingsanzug. Nach eigener Aussage wollte Dittrich, selbst eine Zeit lang arbeitslos, in der Kunstfigur „das Milieu der Gescheiterten“ darstellen. Dazu gehört anscheinend auch die allseits bekannte Aldi-Tüte. Vielleicht sollte man sich neben der Frage, worin Dittsche wohl in Folge 243 seine Flaschen tragen wird (➝ Jute), auch damit auseinandersetzen, wie die Tüte mit dem großen A zum Symbol für Armut werden konnte! Alina Sabransky
F
Fruhtrunk, Günter Der 1923 in München geborene, 1982 ebendort verstorbene Künstler Günter Fruhtrunk gehört zu den wichtigsten abstrakten Malern Deutschlands, doch sein Blick auf die Kunst war stets international: Fruhtrunk war Mitarbeiter im Pariser Atelier von Fernand Léger, war mit Sonia Delaunay befreundet, arbeitete später im Atelier von Hans Arp – und lebte viele Jahre in Paris. 1955 stellte er erstmals selbst in Paris aus. Die düsteren Bilder dieser Epoche heißen etwa Monument für Malewitsch. Bald wurden Fruhtrunks Farben heller: Seine farbintensiven (➝ Nivea), leuchtenden Bilder, die auch bei der documenta 4 im Jahr 1968 zu sehen waren, zeigen eine Welt aus parallelen, diagonalen, farbigen Streifen.
1982 nahm sich Fruhtrunk in seinem Atelier in der Münchner Kunstakademie das Leben. In den vergangenen Jahren ist sein Werk nun wiederentdeckt worden: als hervorragendes Beispiel geometrischer Abstraktion. Seine geometrischen Farbbalken wurden weltbekannt – sein populärstes Werk bleibt der 1970 geschaffene Entwurf der Aldi-Nord-Plastiktüte: weiße Streifen auf blauem Hintergrund. Kunst für alle. Ein demokratisches Kunstwerk. Marc Peschke
J
Jute Vor langer, langer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, die hellblauen Damenhosen einen breiten Schlag hatten, Fußballer von ihrer Haarpracht geradezu erdrückt wurden und Bioläden noch Reformhaus hießen, tauchten diese Tragtaschen im Straßenbild auf. Grob gestrickte Jute mit einem ovalen, aus heutiger Sicht ziemlich coolen Aufdruck versehen: „Jute statt Plastik“. Die Jutetaschen waren noch weit entfernt von den heutigen Hipsterbeuteln, erfüllten aber schon damals den Zweck der Distinktion. Man drückte kritisches Bewusstsein damit aus (➝ Konsum), obwohl die Vorstellung von ganzen Plastikteppichen im Meer noch völlig unvorstellbar war. In dieser fernen Zeit erschien auch der Bericht des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“, bald strickten die ersten Bundestagsabgeordneten ihre Pullover im Parlament.
Warum erzähle ich das? Es ist der Beweis, dass offenbar schon vor sehr langer Zeit bekannt war, dass es so nicht weitergeht. Trotzdem ging es weiter. Im Gegenteil: Die Wachstumsmaschine legte noch einen Zahn zu und der Begriff „alternativ“ ist heute von rechts besetzt. Wahrscheinlich ging es den Leuten damals einfach noch nicht schlecht genug. Vielleicht muss der Punkt erreicht werden, wo wir froh wären, wenn wir wenigstens noch einen Jutebeutel hätten. Marc Ottiker
K
Konsum Der Discounter Konsum war mit seinem Rabattsystem „volksnäher“ als die HO (Handelsorganisation). Man könnte die Konsum-Kaufhallen als den Aldi der DDR bezeichnen. Als Verpackungsmaterial dienten oft kleine, einfache Tüten aus grauem Papier. Manche Tüten wünschen „Guten Einkauf“ oder ordnen „Freude am Einkauf“ an. Andere versichern, dass sich darin „Qualitätslebensmittel“ befänden. Eine individuellere Tüte lässt ein kleines Mädchen verkünden: „Meine Mutti kauft hier“. Wobei es bei Grundnahrungsmitteln egal war, wo die Mutti kaufte. Die waren überall gleich billig.
Das erstaunliche Tüten-Sammelsurium, das man im Netz findet, zeigt, dass es kaum Plaste-Verpackungen gab. Deren Einsatz war den Exquisit-Läden vorbehalten. Wenigstens auf diesem Gebiet war die DDR ein umweltfreundliches Land (➝ Zellophan). Vielleicht wanderte die Plastebeutelproduktion in den „Westen“ und dort auch an die Aldi-Kassen? Im „Osten“ musste der gesamte Einkauf hinter der Kasse individuell eingepackt werden. Darum: Kein Gang ins öffentliche Leben ohne die Mitführung des meist geblümten Stoffbeutels oder eines Netzes für den täglichen „Fang“. Magda Geisler
N
Netto Mein Lieblingsdiscounterdesign ist das schwarz-gelbe von Netto mit dem Scottish Terrier, der ein Körbchen im Maul trägt. Der erste Netto wurde 1981 in Kopenhagen als Reaktion auf den Markteintritt von Aldi in Dänemark eröffnet. Seit 1990 gibt es Netto auch hierzulande, (nicht zu verwechseln mit dem rot-gelben Netto, der zu Edeka gehört). Netto ist Tochter des dänischen Konzerns Dansk Supermarked. Es besteht keine Verbindung zueinander.
Kurz nach dem Brexit im Jahr 2016 kündigte Netto seinen Rückzug an und verließ im August vor zwei Jahren die Insel. Scottie, das Markenzeichen (➝ Nivea), wurde vom dänischen Werbefachmann Peter Hiort entworfen. Auf der Webseite kann man sich ein Scottie-Malbuch als PDF herunterladen. Wo sind denn meine Buntstifte? Elke Allenstein
Nivea Blau-weiß ist die Tüte, wie weiße Wolken am blauen Himmel, wie eine nagelneue Dose Nivea, wie eine Packung OCB-Blättchen. Wenn man das Ohr an die Tüte hält, kann man das Meer rauschen hören und fühlen wie sich das Plastik der Tüte an die frisch gecremte Wange presst. Etwas Ruhe finden, am helllichten Tag, der Müdigkeit nachgeben. Gestern schon wieder so spät ins Bett, heute schon wieder so früh raus. Wann ist endlich Wochenende? Aber Wochenende, das heißt: Großeinkauf (➝ Arbeitstasche) und Sonntagsputz machen. Zu Hause sieht’s schon wieder so schlimm aus, das geht schnell, wenn man mal einen Tag die Spülmaschine nicht ausräumt. Die Sommerferien sind schon beinahe drei Wochen vorbei und blauweiß ist auch die Flagge Griechenlands. Wer bucht mir einen Flug? Ruth Herzberg
S
Stigma „Ihr könnt zum Aldi fahren“, singen 1997 FC-Bayern-Fans. Wer ist gemeint? Bayern und ➝ Beşiktaş Istanbul treffen in der Champions League aufeinander – und die Gäste werden so begrüßt. Der FC Bayern entschuldigt sich mit Anzeigen in türkischen Zeitungen, Karl-Heinz Rummenigge beim türkischen Generalkonsul.
Aldi-Tüten werden bis heute mit Türken in Verbindung gebracht. Warum? Weil Aldi lange als Arme-Leute-Laden galt. Und Ausländer das eben sind. So das Bild in vielen Köpfen. Auch heute noch werden Berichte zu Migranten oft mit Kopftuch und Tüten tragenden Frauen bebildert. Dabei gehen auch Bio-Deutsche (➝ Dittsche) zu Aldi. Gibt es nicht Schlangen, wenn der Discounter etwa Computer billig verkauft? Werden die Migranten vorgeschoben, damit einem nicht selbst das Stigma des Armen anhaftet? Behrang Samsami
Z
Zellophan Auf fünf mal fünf Metern empfängt das Aldi-Muster die Besucher der Ausstellung Das Ereignis eines Fadens im Kunsthaus Dresden. Auch für Passanten war der „Aldi-Vorhang“ des Gelsenkirchener Künstlers Andreas Exner aus dem Jahr 1999 durch die Fenster zu sehen.
Inwieweit kann Gestaltung in die Gesellschaft (➝ Dittsche) hineinwirken und können andererseits alltägliche Formen in das Designvokabular eingehen? Stellvertretend für diese Frage wandert der Vorhang im Rahmen der Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) im November nach Kuweit, dann nach Istanbul. Sarah Alberti
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