Auf der rotstaubigen Sandpiste nach Kagehalladadoddi haben Bauern ihre Ernte ausgebreitet. Die durchfahrenden Fahrzeuge sollen mit ihrem Gewicht die Spreu vom Getreide trennen. Trinkwasser holen die Bewohner des 3000-Seelen-Dorfes vom Brunnen. Vor ein paar Monaten aber begann hier - rund 110 Kilometer südwestlich der IT-Metropole Bangalore im Bundesstaat Karnataka - das Web-Zeitalter.
Schauplatz des Fortschritts ist ein kleines Haus, gleich am Ortseingang. Ravi, ein etwas gedrungener Mann von Mitte 20, betreibt hier einen Internet-Kiosk. Die blau gestrichenen Wände des kargen Raumes zieren Bilder hinduistischer Gottheiten. Daneben hängt die Preisliste: 25 Rupien, umgerechnet 45 Cent, kostet die Verbindung ins World Wide Web pro Stunde. Etwa soviel wie eine Busfahrt nach Bangalore. Auf dem Tisch steht ein Rechner, ausgestattet mit Webcam, Mikrofon, Lautsprecherboxen, Drucker, netzunabhängiger Stromversorgung für vier Stunden. Eine Schar Kinder und ein paar ältere Männer drängen sich um den Bildschirm und bestaunen die Attraktion des Dorfes. Ravi hatte bis vor kurzem nichts mit Computern zu tun. Der gehbehinderte Hochschulabsolvent war bereits einige Zeit auf Arbeitssuche, als ihn ein Agent der Firma n-logue ansprach: Ob er in seinem Dorf einen Internet-Kiosk betreiben wolle? Umgerechnet 170 Euro müsse er an Kapital mitbringen, weitere 650 Euro über ein zinsgünstiges Darlehen aufnehmen, das n-logue ihm bei der lokalen Bank vermittle. Dafür erhalte Ravi alles, was er für seine berufliche Existenz brauche: neueste Hard- und Software, technischen Service, eine umfassende Schulung, Internet-Verbindung.
Den Netzzugang gewährleistet n-logue - ein Spin-Off des renommierten Indian Institute of Technology (IIT) in Madras - via Funk. Genauer: Über die am IIT entwickelte Technologie CorDECT Wireless Local Loop. Sie basiert auf dem europäischen Standard DECT (Digital Enhanced Cordless Telecommunications) und ermöglicht es, kostengünstig und schnell Sprache und Daten zu übertragen.
Technologisches Entwicklungsland hinter Bolivien, Botswana und der Mongolei
N-logue errichtet gewissermaßen ein drahtloses Telefonnetz auf dem Land. Als Basisstationen dienen solarbetriebene Funktürme, die per Richtfunk mit einem lokalen Service-Provider verbunden sind, der bis zu 400 Internet-Kioske in einem Radius von 25 Kilometern bedient. Der lokale Provider ist per Glasfaserkabel an einen großen Internet-Service-Provider angebunden und profitiert davon, dass dank der Verbreitung von Kabel-TV bereits das Gros der 601 indischen Bezirkshauptstädte mit Glasfaser-Verbindungen ausgestattet ist.
Rund 1.500 Internet-Kioske hat n-logue nach diesem Muster seit 2002 in ländlichen Regionen aufgebaut. Dahinter steht der Lebenstraum von Professor Ashok Jhunjhunwala, Leiter der Abteilung für Elektro-Ingenieurswesen am IIT: Jedem Inder einen Internet-Zugang zu verschaffen, um damit die digitale Kluft auf dem Subkontinent zu schließen.
Kaum überraschend verbucht Indiens IT-Branchenverband Nasscom seit Jahren ein Umsatzwachstum von 16 bis 17 Prozent, seinen Angaben zufolge bestritt der IT-Sektor im Vorjahr 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und ein Fünftel der Exportumsätze. Der Boom beschränkte sich bisher jedoch auf Metropolen wie Delhi, Bangalore oder Hyderabad. Auf dem Land, wo zwei Drittel der Bevölkerung leben, war vom globalen Dorf nichts zu spüren. Den großen Service-Providern schien dieser Markt nicht attraktiv genug - zu wenig Kaufkraft, um mit einer kostspieligen Infrastruktur in die Fläche zu gehen. So blieb Indien über Jahre hinweg ein technologisches Entwicklungsland. Auf 1.000 Einwohner kamen 2003 gerade einmal sieben PCs und 17 Internet-Nutzer - deutlich weniger als etwa in Bolivien, Botswana oder der Mongolei* (Deutschland zählte zum gleichen Zeitpunkt 431 Rechner und 473 Internet-Nutzer pro 1.000 Einwohner).
Moderne Kommunikationstechnologien aber eröffnen Bildungschancen und damit Wege aus der Armut, betonte nicht zuletzt der erste World Summit on the Information Society der UN Ende 2003 in Genf. Ganz oben auf dem verabschiedeten Aktionsplan stand das Verlangen, Dörfer in der Dritten Welt zu vernetzen und die dafür nötige Infrastruktur aufzubauen.
Diesem Auftrag folgt N-logue, wenn es derweil mit seinem konsequent lokalen Geschäftsmodell expandiert. "Westliche Technologien sind zu teuer, deshalb müssen Schwellenländer eigene Modelle kreieren", glaubt Professor Jhunjhunwala. Als Vorbild gilt ihm der indische Telekommunikationsmarkt. Nach dessen Liberalisierung Anfang der neunziger Jahre schossen landesweit winzige, von Privatleuten betriebene Telefonstationen aus dem Boden. Ein eingebauter Zähler ermöglicht die sofortige Abrechnung. "Das war eine der bemerkenswertesten Erfolgsgeschichten unserer Wirtschaft", schwärmt Gunstala Ponnapa, Geschäftsführer von n-logue.
Sein Büro in dem etwas in die Jahre geratenen Geschäftsbezirk von Madras wirkt bescheiden. 65 Leute arbeiten hier, weitere 75 vor Ort in den Regionen. Ponnapa war jahrelang als Manager für internationale Firmen wie Black Decker und Motorola tätig. Als ihm Jhunjhunwala das Konzept von n-logue präsentierte, zögerte er nicht: "Die Aussicht, etwas für unser Land zu tun, reizte mich ungemein. Das Internet verbessert die Lebensqualität auf dem Dorf." Es sei dabei unverzichtbar, sich dem ländlichen Kontext anzupassen, als Inhaber der Internet-Kioske würden daher junge Männer und Frauen mit gutem Bildungsabschluss von n-logue stets vor Ort rekrutiert.
20 Millionen Euro weniger an Bestechungsgeldern
Entscheidend bleibt die Frage: Welchen Nutzen bietet diese Strategie einem indischen Bauern, der in der Regel kein Englisch versteht, sofern er überhaupt lesen und schreiben kann. Auch hier denkt n-logue lokal. Die Bewohner von Kagehalladadoddi haben Zugriff auf ein Online-Portal in Kannada, der offiziellen Landessprache im Bundesstaat Karnataka. In disem Portal hat das Unternehmen die Web-Ausgaben der Regionalzeitungen, Wetterberichte oder das für sternengläubige Inder so wichtige Horoskop gebündelt. Die Regierung von Karnataka bietet mit ihrem Projekt Bhoomi (Land) die Möglichkeit, online Auszüge aus dem Grundbuch zu beziehen, die Bauern unter Umständen benötigen, um Kredite zu beantragen oder ihre Kinder einzuschulen. Nach einer Studie der Weltbank ließen sich damit nur in dieser Region jährlich etwa 20 Millionen Euro an Bestechungsgeldern sparen.
Noch 2005 will n-logue 10.000 Dörfer vernetzt haben und zugleich beginnen, die Technologie in andere Schwellenländer zu exportieren. Um in drei Jahren wie geplant profitabel zu sein, braucht es auch kommerzielle Partner. Indiens größte Privatbank ICICI ist engagiert: Über einen am IIT entwickelten kostengünstigen Geldautomaten können Dorfbewohner - identifiziert per Webcam und Fingerabdruck - in den Internet-Kiosken demnächst auch Geld abheben.
Für den Erfolg des Konzepts brauche man das Engagement der Kiosk-Besitzer, meint Rajha Aravamudhan, der als lokaler Manager von n-logue den Internet-Kiosk in Kagehalladadoddi betreut. "Wir zeigen ihnen, welche Angebote sie unterbreiten können, indem sie Schreibdienste für Analphabeten übernehmen, Filme vorführen oder Computer-Kurse für Kinder veranstalten. Entsprechende Lernmanuale stellt n-logue zur Verfügung."
Der eingangs erwähnte Kiosk-Betreiber Ravi verdankt die guten Umsätze in den ersten Wochen seiner Selbstständigkeit vor allem den Computer-Spielen. Professor Aravamudhan sieht darin keinen Widerspruch zu den hehren Zielen von n-logue: "Über Spiele erhalten die Kinder einen Bezug zum Computer." Und erkennen im Idealfall, wie ihnen die Maschine in einer aufstrebenden IT-Nation nützen kann.
* Diese Zahlen gehen auf die Internationale Fernmeldeunion (ITU) in Genf zurück.
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