Die bürgerlichen Geschlechtsrollenklischees, wie sie noch heute unser Leben bestimmen, sind ein Produkt des späten 18. Jahrhunderts. Ihre wesentliche Funktion besteht darin, Sexualitität auf Heterosexualität und Fortpflanzung zu reduzieren. Dementsprechend setzen die Geschlechtsrollenklischees eine massive Tabuisierung und Unterdrückung einer - wie Judith Butler es ausdrückt - subversiven Mannigfaltigkeit der Sexualität voraus. Die Folgen einer solchen Tabuisierung sind einerseits weitreichende Diskriminierungen gegenüber Homosexuellen. Diese Diskriminierung hat durch die Aids-Krise eine unrühmliche Renaissance erfahren. Andererseits ist damit aber auch ein allgemeines Unbehagen der Geschlechter verbunden, das die heterosexuellen Beziehungen bel
Alle Laster werden frei
UNBEHAGEN DER GESCHLECHTER Politischer Aktivismus in der Kunst der 90er Jahre rüttelt an den bürgerlichen Geschlechtsrollenklischees
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belastet.Exemplarisch für die gesellschaftliche Konstruktion der Geschlechtsrollen im 18. Jahrhundert ist die Selbstverständlichkeit, mit der zum Beispiel Friedrich Schiller die Zuschreibung nach »männlich« und »weiblich« im Lied von der Glocke vornimmt: Der Jüngling sieht die Jungfrau »mit züchtigen, verschämten Wangen« vor sich stehen. Heirat ist das Ereignis, »wo das Strenge mit dem Zarten, wo Starkes sich und Mildes« paaren. Die bürgerliche Ehe ist folgenreich: »Die Leidenschaft flieht! Die Liebe muß bleiben«. Die Aufteilung der Geschlechtsrollen ist klar definiert. Für den Mann heißt es nun, er »muß hinaus ins feindliche Leben«. Dagegen ist der Tätigkeitsbereich der Mutter im Haus: »drinnen waltet die züchtige Hausfrau«.Gefahren für die geregelten bürgerlichen Verhältnisse sieht Schiller in aufrührerischen Bewegungen. Er warnt: »wenn sich die Völker selbst befrein, da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn«. Als ganz problematisch hat er die französische Revolution (»Freiheit und Gleichheit! hört man schallen«) empfunden. Denn da wird auch an den Geschlechtsrollenklischees gerüttelt, und damit an der bürgerlichen Moral. Frauen bleiben nicht »züchtig«, wie Schiller sie gerne möchte. Im Gegenteil, es wird gräulich: »Da werden Weiber zu Hyänen«. Damit korrespondiert, was seither das Schreckgespenst des deutschen Biederbürgers ist: »Nichts Heiliges ist mehr, es lösen Sich alle Bande frommer Scheu ... Und alle Laster werden frei«.Im Gegensatz zu Schiller bemerkte Siegmund Freud etwas, was dieser geflissentlich übersah, nämlich die Einschränkungen der Sexualität, die mit den Geschlechtsrollenklischees verbunden sind. In seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930) stellt er fest, daß die Kulturgesellschaft sich mit ihren Verboten über die Ungleichheiten in der Sexualkonstitution hinwegsetze, damit eine ziemliche Anzahl der Menschen vom Sexualgenuß abschneide und so zur Quelle schwerer Ungerechtigkeiten werde. Doch auch was von der Ächtung frei bleibe, die heterosexuelle genitale Liebe, werde durch die Beschränkungen der Legitimität und der Einehe weiter beeinträchtigt. Dementsprechend düster fällt Freuds Beurteilung der Kultur aus, wenn er sagt: »Die heutige Kultur gibt deutlich zu erkennen, ... daß sie die Sexualität als selbständige Lustquelle nicht mag und sie nur als bisher unersetzte Quelle für die Vermehrung der Menschen zu dulden gesinnt ist«. Freud beläßt es allerdings nicht bei dieser düsteren Beurteilung. Er fährt vielmehr fort: »Das ist natürlich ein Extrem. Es ist bekannt, daß es sich als undurchführbar ... erwiesen hat. Nur die Schwächlinge haben sich einem so weitgehenden Einbruch in ihre Sexualfreiheit gefügt«.Freud registriert also neben dem Unbehagen in der Kultur ein Widerstandspotential, das mit dem englischen Ausdruck »Gender Trouble« zutreffend gekennzeichnet wird: einem Ausdruck, der für Judith Butlers philosophische Betrachtungen in Das Unbehagen der Geschlechter von 1991 ebenso zentral ist wie für die machtvolle außerparlamentarische Bewegung ACT UP (Aids Coalition To Unleash Power), die sich bereits Mitte der 80er Jahre in der kulturellen Metropole New York entwickelte. ACT UP griff die Methoden der Bürgerrechtsbewegungen der 60er Jahre wieder auf und war - ebenso wie sie - darauf angelegt, die bürgerlichen Werte aufzumischen. Die Bewegung strahlte bald in andere US-amerikanische Städte aus. Selbst in Europa bildeten sich ACT UP-Ableger. Zentrales Thema war die Aids-Krise. ACT UP wurde von ein paar homosexuellen Männern initiiert. Für sie war es nicht akzeptabel, daß die Diagnose auf HIV-positiv unhinterfragt als Todesurteil akzeptiert werden sollte. Aids wurde damals (nicht nur) in den USA von konservativen Politikern und Kirchenfunktionären benutzt, um Sexualität wieder mit Angst zu besetzen und die Uhren zurückzustellen auf die moralische Backfischtaillenweite der fünfziger Jahre. Die stillschweigende Voraussetzung ihrer Politik war, daß Aids als tödliche Gefahr präsent bleibt. Dagegen machte ACT UP mobil.Eine Zielscheibe der wütenden Demonstrationen waren die Meinungsführer der politischen Rechten. Feministinnen bemerkten bald, daß es sich dabei um Personen handelte, die auch ihre Gegner waren. Zum Beispiel der New Yorker Kardinal O'Connor. Er verkündete nicht nur, daß »eine gute Moral die beste Medizin sei«, und er trat nicht nur gegen die Benutzung von Kondomen auf - er war auch einer der verbissensten Gegner von Abtreibungsrechten. Weil sie in solchen Fällen die selben Gegner hatten, zogen ACT UP-Aktivisten und Feministinnen bald am gleichen Strang und führten gemeinsame Demonstrationen durch.Eine andere Zielscheibe war das medizinische Versorgungssystem. Die Krankenhäuser waren unzureichend ausgerüstet. Und das Virus wirkte im weiblichen Körper anders als bei Männern, deshalb wurden viele HIV-positive Frauen falsch diagnostiziert und starben zu früh. Außerdem gab es auch hier das Klassen-Problem: von einer angemessenen Versorgung der sozial Schwachen konnte keine Rede sein. Auch durch solche Themen wurden wieder neue Gruppen in die Bewegung integriert.Eine weitere Zielscheibe der ACT UP-Aktivisten war die Pharma-Industrie. So hatte der Pharma-Multi Burroughs Wellcome das Medikament AZT auf den Markt gebracht. Durch Lobby-Tätigkeit und andere in der Pharmaindustrie übliche Methoden sorgte er dafür, daß es das einzige blieb, um viel Gewinn abzuwerfen. Deshalb wurde auch Burroughs Wellcome zum Thema einer Demonstration am Zentrum der National Institutes of Health (NIH), der Behörde, die in den USA für die Zulassung von Medikamenten zuständig ist. Vincent Gagliostro machte das Plakat »Enjoy AZT« dafür. Es wurde wild geklebt. Der Text lautet übersetzt: »Genießt AZT. In den vergangenen zehn Jahren hat die US-Regierung eine Milliarde Dollar ausgegeben, um neue Aids-Medikamente zu entwickeln. Das Ergebnis: Ein Medikament - AZT. Die eine Hälfte der Menschen, die es einnehmen, wird krank, und bei der anderen Häfte wirkt es nach einem Jahr nicht mehr. Ist AZT die letzte große Hoffnung für die Aids-Kranken? Oder ist es die Patentlösung für den Riesengewinn, den Burroughs Wellcome auf dem Aids-Markt macht? Dutzende von Medikamenten stecken noch in Regierungskanälen, während die Monopolgesellschaft ein Vermögen macht. Ist das Gesundheitsfürsorge oder Reichtumsfürsorge? Stürmt das N.I.H. am 21. Mai.« Das Plakat ist im Coca-Cola-Rot gedruckt. Die Aktion fand 1990 statt.Vincent Gagliostro ist Maler und Grafik-Designer. Wie er, engagierten sich in ACT UP viele Künstlerinnen und Künstler. Sie waren es, die die Bewegung wesentlich voranbrachten. Denn sie schufen - in einer für die traditionell antiästhetisch eingestellte deutsche Linke ungewohnten Weise - werbewirksame Mittel, und sorgten gerade damit für eine durchschlagende Öffentlichkeitswirksamkeit. Ihre Erfolge waren beträchtlich. In den vergangenen Jahren kamen fast alle medizinischen Fortschritte in der Aids-Bekämpfung aus den USA.Diese Künstlerinnen und Künstler achteten darauf, nicht nur an politischen Themen zu arbeiten. Sie wollten gleichberechtigt daneben auch persönliche Ideen umsetzen. Richten sich die politischen Arbeiten gegen einen sexualpolitischen Missbrauch der Aids-Krise, der ihre politischen Dimensionen ideologisch verschleiert, so wird in den persönlichen Arbeiten genau jene »subversive Mannigfaltigkeit einer Sexualität« thematisiert, die an der hegemonialen Bedeutung heterosexueller Normen rüttelt.So hat die Künstlerin Zoe Leonard mehrere Fotos von hergestellten Objekten gemacht - von Prothesen, Puppen, Perücken, anatomischen Modellen usw. Dazu bemerkt sie 1997 in einem Interview, daß all diese Objekte für Verlust und Ersatz beziehungsweise für etwas anderes einstehen oder etwas symbolisieren. »Sie spiegeln letztlich die Idee wider, daß du zunächst Schmerz erleiden mußt, um dir Liebe oder Anerkennung zu verdienen. Daß man den Körper überwinden muß, sich anpassen muß«. Diese zutiefst bürgerliche Idee des Schmerzes, der mit der Anpassung des Körpers an die Geschlechtsrollenklischees verbunden ist, nimmt Zoe Leonard jedoch aus einer antibürgerlichen Perspektive unter die Lupe. Beispielhaft dafür ist ihre Fotografie »Male Fashion Doll # 2« (1995), von der sie sagt: »Diese Puppe ist wirklich eine kleine Drag Queen. Sie hat das Gesicht eines kleinen Mädchens und einen Körper, der genau dem entspricht, wie der Körper eines kleinen Mädchens nun einmal in Plastikform dargestellt wird - er ist rosa und völlig geschlechtslos. Doch dann hat ihr jemand einen kleinen Schnurrbart angemalt und das Ganze ÂMännliche Modepuppe genannt. Das liess mich daran denken, wie bizarr das Konzept ist, das wir als Gender, soziales Geschlecht, bezeichnen«.Doch nicht nur das Konzept selbst, auch die Wahrnehmung, die es hervorbringt, ist bizarr. Diese Erfahrung machen die meisten Betrachterinnen und Betrachter auch bei der Fotografie »Mamis mit ihren Zwillingssöhnen« (1992) von Teri Slotkin. Unter heterosexuellen Vorzeichen fragt man sich: Warum haben die Mütter jeweils nur einen ihrer Zwillingssöhne auf dem Schoss? Die »Mamis mit ihren Zwillingssöhnen« durchbrechen die heterosexuellen Normen der Geschlechtsrollenklischees, wie sie sich in den meisten Familienfotos widerspiegeln. Denn diese Mütter sind ein Elternpaar ohne Vater. Eine künstliche Befruchtung machte es möglich, daß die beiden lesbischen Frauen Eltern von Zwillingen sind. Diese »Mamis mit ihren Zwillingssöhnen« verwirren den gewohnten Blick auf Familien.Die Werke der New Yorker Künstlerinnen und Künstler belegen in eindrucksvoller Weise Judith Butlers These daß »die Attribute der Geschlechtsidentität nicht expressiv, sondern performativ sind ... Wenn die Attribute und Akte der Geschlechtsidentität, die verschiedenen Formen, in denen ein Körper seine kulturelle Bezeichnung zum Vorschein bringt oder produziert, performativ sind, gibt es keine vorgängige existierende Identität, an der ein Akt oder Attribut gemessen werden könnte. Es gibt dann weder wahre noch falsche, weder wirkliche noch verzerrte Akte der Geschlechtsidentität, und das Postulat einer wahren geschlechtlich bestimmten Identität enthüllt sich als regulierende Fiktion.« Indem sie die Geschlechtsrollenklischees als instabile, veränderbare Konstruktionen entlarven, werfen die New Yorker Künstlerinnen und Künstler darüber hinaus die Frage nach den emanzipatorischen Perspektiven einer Sexualität auf, die nicht nur - wie Freud sich ausdrückt - »als bisher unersetzte Quelle für die Vermehrung der Menschen« geduldet, sondern als »selbständige Lustquelle« anerkannt wird. Tatsächlich kann nur aufrührerischer Aktivismus die Energie freisetzen, die nötig ist, um die so stabil scheinenden bürgerlichen Werten gründlich durcheinanderzurütteln. Erst dann können »alle Laster frei werden«.Giesela Theising ist Soziologin und Berufsschullehrerin in Hannover. Prof. Lutz Hieber lehrt Soziologie an der Universität Hannover. Beide sind Kunstsammler und besitzen eine der größten Sammlung von psychedelischen Pop Art-Postern der 60er Jahre. Ihr Aufsatz entstand im Zusammenhang mit der Ausstellung im neuen Aachener Kunstverein »Unbehagen der Geschlechter/Gender Trouble«.
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