„Alle zahlen ihren Preis“

Interview Der russische Militärexperte Wassili Kaschin schaut auf die NATO-Manöver im Schwarzen Meer und warnt vor „roten Linien“
Ausgabe 28/2021

Ist das NATO-Großmanöver „Sea Breeze“ im Schwarzen Meer unter ukrainischer Beteiligung Vorspiel für die nächste Erweiterung der Allianz oder Trostpreis für die weiter ausbleibende Mitgliedschaft der Ukraine? Um etwas über die russische Sicht auf die Übung zu erfahren, sprach der Freitag mit dem bekannten Militärexperten Wassili Kaschin von der Moskauer Higher School of Economics.

der Freitag: Von der Anzahl der teilnehmenden Länder her ist „Sea Breeze“ das bisher umfangreichste Manöver im Schwarzen Meer, doch wirkt Russland eher gelassen. Warum?

Wassili Kaschin: Seit sich 2014 wegen des Ukraine-Konflikts die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen verschärft haben, kam es zu mehreren demonstrativ gegen den anderen gerichteten Manövern. Ich denke, wenn nicht versucht wird, in russische Hoheitsgewässer einzudringen, wie durch den britischen Zerstörer „Defender“, haben wir keinen Grund zur Sorge. Russland und die NATO verfügen über Erfahrungen mit solchen Übungen. Seit Generationen schon beobachten wir uns gegenseitig.

Iwan Timofejew vom Rat für auswärtige Beziehungen warnt vor einer Eskalation durch menschliches Versagen. Gibt es Mechanismen dafür, dies zu verhindern?

Ich denke, Gefahr besteht nur, wenn jemand versucht, in die Hoheitsgewässer um die Krim einzudringen. Allerdings kann ich mich an ein Beispiel erinnern, das nichts mit Russland zu tun hatte – die Kollision von Flugzeugen Chinas und der USA im April 2001 über dem Südchinesischen Meer. Ein US-Jet versuchte, in eine Zone einzudringen, die von den Chinesen für gesperrt erklärt worden war. Ein chinesischer Pilot wollte das vereiteln, es kam zum Zusammenstoß und zu einer schweren diplomatischen Krise. Das kann immer passieren, wenn „rote Linien“ nicht respektiert werden.

Zur Person

Wassili Kaschin, 47, ist Dozent an der Moskauer Hochschule HSE, außerdem Senior Research Fellow für den Fernen Osten an der Russischen Akademie der Wissenschaften und seit Jahren Mitglied des Rates für auswärtige Beziehungen

Ist die „Sea Breeze“-Übung ein Trostpflaster für Kiew, weil die Ukraine so schnell nicht in die NATO aufgenommen werden wird?

Höchstwahrscheinlich. Was derzeit geschieht, könnte man eher als militärische Erschließung des ukrainischen Territoriums durch Streitkräfte der USA und anderer westeuropäischer Länder bezeichnen. Die Ukraine tritt der NATO nicht bei und hat keine ständigen Stützpunkte, aber ihr Territorium wird ständig für das Training und die Aufklärung gegen Russland genutzt, das gegensteuern dürfte. Die Konsequenz wird ein hohes Maß an militärischen Spannungen für alle Beteiligten sein – alle zahlen ihren Preis. Auch die USA, für die doch eigentlich die militärische Konfrontation mit China an erster Stelle steht. Die Amerikaner versuchen seit Jahren, ihre Einheiten in den Pazifik umzugruppieren. Da müssten die Spannungen um die Ukraine eigentlich ein Hemmschuh sein. Dies erschwert die Versuche, China einzudämmen – das große Thema heutiger Geopolitik.

Das russische Verteidigungsministerium hat erklärt, dass die NATO Kiew im Schatten von „Sea Breeze“ mit Waffen beliefert, die im Endeffekt nationalistische Kräfte in der Ostukraine erhalten. Wie sind solche Äußerungen zu verstehen?

Es ist verbreitete Praxis bei großen Übungen, vor allem bei den Amerikanern, von den Waffenbeständen einiges im Manövergebiet zurückzulassen und einheimischen Kräften zu übergeben. Jüngst verzögerte der Gipfel Putin/Biden die nächste Hilfetranche für die Ukraine in Höhe von 100 Millionen Dollar. Es ging um Luftabwehrsysteme und Antipanzerwaffen. Nun hilft die Militärübung dabei, dass die ukrainische Armee zu einer gewissen Verbesserung ihrer Ausrüstung kommt, das aber nicht in entscheidendem Umfang.

Die Russische Botschaft in Washington hat auf den BLACKSEAFOR-Vertrag verwiesen, der einst für Vertrauen zwischen den Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres sorgte. Bis 2014 waren daran auch Russland und die Ukraine beteiligt. Gibt es Hoffnung, dies wiederzubeleben?

Augenblicklich schwer vorstellbar. Die USA haben Russland offiziell zum Gegner erklärt, Russland hat die USA auf die Liste der unfreundlichen Staaten gesetzt, die NATO sieht Russland als elementare Bedrohung. Das ist die Realität, dennoch gibt es unsererseits Militärübungen mit Staaten, die Verbündete der USA sind, in Asien etwa mit Japan. Oder Rettungsübungen mit den Norwegern, wenn ich mich nicht irre. Aus meiner Sicht ist es für Russland wichtig, zu zeigen, dass es nicht Initiator verschlechterter Beziehungen mit den USA und einigen EU-Ländern ist, stattdessen für eine Normalisierung einzutreten, deshalb auch der von Ihnen zitierte Vorschlag.

Russland hat jüngst bei einem Manöver mit Syrien zwei MiG-31K-Kampfjets zur dortigen Luftwaffenbasis Hmeimim verlegt. In westlichen Medien hieß es sofort, damit werde die Südflanke der NATO bedroht. Warum wird ein solcher Vorgang so ernst genommen?

Die MiG-31K ist ein Flugzeug, das Hyperschall-Marschflugkörper trägt. Es ist das erste System dieser Art und sehr leistungsfähig. Damit kann man stationäre Ziele, vielleicht sogar Kampfschiffe, aus großer Entfernung treffen. Russland ist stolz auf dieses System, das viel Aufmerksamkeit findet und dem ein symbolischer Charakter zuerkannt wird. Das Gleiche geschieht etwa beim Flugabwehrsystem S-400. Wenn Russland jetzt diese Flugzeuge verlegt, ist das Teil seiner Strategie im östlichen Mittelmeer. Mit diesen Stationierungen wird angedeutet, dass Russland seine Aktivität dort steigern könnte. Zuvor schon wurden Bomber des Typs Tu-22 disloziert. Bekanntlich ist die U. S. Navy in dieser Region sehr agil, um Truppen zwischen verschiedenen Kriegsschauplätzen hin und her zu schieben. Von daher soll wohl demonstriert werden, dass Russland Fähigkeiten hat, sich das Gebiet ebenfalls zu erschließen, aber nicht, um eine Bedrohung für Europa oder die NATO-Südflanke zu sein.

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