Allerfeinstes Handwerk - Dominik Graf zum 60.

Hommage Dominik Graf ist eine Ausnahmeerscheinung unter den deutschen Regisseuren. Zwei neue Bücher sagen, warum das so ist

Als ich mich 2008 mit Dominik Graf zu einem Interview über seinen Film Das Gelübde traf, stellte ich ihm während des anschließenden Fotoshootings eine Frage. Der Mann, der Schauspielern ständig Anweisungen gibt, was sie zu sagen und zu tun haben, stand mit verschränkten Armen im Raum, starrte in die Linse und konnte, so schien es, etwas Auflockerung vertragen. Graf wendete den Kopf und begann eine Lobeshymne auf die verborgenen Schönheiten des Nunsploitation-Films im Besonderen und des italienischen Genrefilms im Allgemeinen. Die Konzentration war erst mal hin, der Fotograf war sauer, aber ich hatte einen Moment wahrer Begeisterung auf Band, über geschändete Ordensschwestern im Kino.

Es sind diese Momente der Begeisterung, in denen eine Situation, eine Emotion abrupt ihre Stimmung und ihr Tempo wechselt, in denen das Erwartete aufbricht, die ich an Dominik Graf liebe, und an seinen nun mehr als 60 Kino- und Fernsehfilmen, an seinen Texten zu den verborgenen Schätzen der Filmgeschichte, an seinen Interviews. Dominik Graf ist ein Meister des gesprochenen Wortes, wie sonst nur Christian Petzold verfertigt er im Sprechen seine Gedanken und wird dabei umso besser, je leidenschaftlicher er etwas liebt oder hasst.

Dialog als Erotikon

Den heutigen 6. September ist er nun 60 Jahre alt geworden, und seine Lust auf cineastische Entdeckungen und sein Ekel vor dem, seiner Meinung nach, so braven deutschen Gegenwartskino scheint jedes Jahr zu wachsen. Auf der Berlinale lief dieses Jahr sein neuester Film Lawinen der Erinnerung, in dem Graf kurz vor dessen Tod den Autor und TV-Regisseur Oliver Storz sprach. Gerade haben die Dreharbeiten zu Die geliebten Schwestern begonnen, über das Dreiecksverhältnis Friedrich Schillers zu Charlotte und Caroline von Lengefeld. In der FAZ erscheinen weiterhin großartige DVD-Kritiken, bei Diaphanes kam gerade Grafs begeisternde Hommage an die stilbildende US-Polizeiserie Homicide heraus. Es ist auch ein Buch über seinen eigenen filmästhetischen Ansatz: „Dialog als Erzählsystem. Dialog als Erotikon.“ Und Graf ist pünktlich zu seinem Geburtstag auch zu akademischen Ehren gekommen, in der Edition Text + Kritik ist dieser Tage der seinem Werk gewidmete Sammelband Im Angesicht des Fernsehens erschienen. Als Einstieg in den Band wurde passenderweise ein Interview mit Graf gewählt, das einmal mehr beweist, wie reflektiert Dominik Graf jeden Aspekt des Filmemachens und des eigenen Werdegangs betrachtet. Das Interview ist nicht zuletzt ein Plädoyer für komplexe Erzählsysteme, für die intellektuelle Herausforderung eines Films (und natürlich eine Schelte auf die „Antiintellektualität in Deutschland“).

Womit beginnen, wenn man sich mit seiner eigenen Begeisterung eine Schneise durch Grafs Werk bahnen will? Vielleicht mit Treffer (1984), dem ersten von ihm handwerklich als gelungen empfundenen Film, und Graf versteht sich ja vor allem auch als „Handwerker“. Sieht man diesen Film über drei motorradbegeisterte, trinkfeste Kumpels heute wieder, erkennt man bald, dass man es mit einem Werk von Graf zu tun hat. Das liegt nicht an einem wiedererkennbaren Look mit bestimmten Einstellungsgrößen, Szenenauflösungen oder Kameraperspektiven, eine formalisierte Handschrift lässt sich nicht ausmachen. Dafür eine unverkennbare Haltung, eine Stimmung, ein Tempo. Treffer beginnt melancholisch, in grauer Morgendämmerung einer erwachenden Stadt. Zu den Klängen von The Lovin’ Spoonfuls „Darling Be Home Soon“ schütteln sich die drei Hauptfiguren den Schlaf aus den Gliedern, springen auf ihre Motorräder, und schon ist der Film hellwach, von Null auf Hundert quasi, liefert sich ein Rennen mit einem Auto, rast durch Maisfelder, landet in einem hochtourigen Stockcar-Race, springt dann direkt in eine Kneipe zum Saufgelage, einem Moment exzessiver Ausgelassenheit und wilden Durcheinander-Gequatsches, wie sie sich bei Graf so häufig finden. Worum es geht, weiß man nach diesen ersten Minuten zwar immer noch nicht, aber man hat schon eine Menge magische Momente erlebt.

Einen Graf’schen Moment erkennt man meist daran, dass die Figuren reden, miteinander, gegeneinander, übereinander, dass sie sich in die Pfanne hauen, zärtlich umgarnen, ins Bett kriegen wollen oder einfach nur um des Redens willen etwas sagen. Selbst wenn nicht viel gesprochen wird, haben Grafs beste Szenen einen dialogischen, multiperspektivischen Charakter, das Geschehen wird aus einer Vielzahl von Blickwinkeln betrachtet, mannigfaltige Details, Gesten, Beobachtungen sind in den Aufbau einer Szene integriert, die Tonlagen wechseln häufig. Bei Graf passiert immer vieles gleichzeitig, eine erotische Spannung ist meist mit im Spiel, eine Ausgelassenheit und Lebensfreude, die oft in bedrohliche Stimmungen umschlägt. Es ist auch eine Frage des buchstäblichen „Milieus“; viele der besten Graf’schen Momente ereignen sich in Puffs, in den Kneipen am Berliner Stutti aus Hotte im Paradies (2002) oder im King George in Im Angesicht des Verbrechens (2010).

Neben großen Ensemble-Szenen ist Dominik Graf auch ein Meister des stillen Exzesses, in der Gestaltung von Momenten, in denen die Welt einzelner Figuren in sich zusammenbricht. In seinen drei Melodramen Deine besten Jahre, Bittere Unschuld (beide 1999) und Kalter Frühling (2004), Grafs ambitioniertesten Versuchen, die heile Rosamunde-Pilcher-Welt des deutschen 20.15-Uhr-Fernsehens von innen heraus zu erodieren, gibt es eine Fülle solcher Momente. Im Aufsatz „Außer Fassung“, der zu den besten des Text + Kritik-Sammelbandes gehört, beschreibt Daniel Eschkötter die markanten, die Figuren überwältigenden Erzählsplitter als „Sound- und Bildereignisse, als Risse im sonooptischen Gefüge. Grafs Filme enthalten viele ganz konkrete, narrativ vollkommen ungefügte und ungefügige Ereignisse dieser Art: In auffälliger Häufung sind es Züge, die an Grundstücken vorbeifahren, Düsenflieger am Himmel, dazu Tiere, Wetterphänomene, Gesprächsfetzen und Rufe, kleine Störungen und überhaupt irritierende Geräusche aus dem Off, die in die Figurenwahrnehmung und den Filmfluss dringen.“

Die Risse, Dissoziationen und kleinen Störungen, die „ungefügten und ungefügigen Ereignisse“, von denen Eschkötter spricht, all diese optischen und akustischen Details, aus denen Graf seine unverkennbaren Momente gestaltet, verdichten sich in Dominik Grafs Lieblingsgenre, dem Polizeifilm, zu einem Abgrund, der sich durch die gesamte Gesellschaft zieht. Für die von ihm gedrehten Folgen von Der Fahnder, Tatort und Polizeiruf 110, für Sperling und der brennende Arm (1998), Eine Stadt wird erpresst (2006) und Das unsichtbare Mädchen (2011) gilt abermals, was Graf für Homicide konstatiert: Es sind „Welterklärungsmaschinen“.

Wer verstehen will, wie Graf seine eigene Arbeit begreift, welche grundlegende Bedeutung für ihn das Polizeifilm-Genre hat, als Medium der Weltbeschreibung und als Paradigma einer realistischen, manchmal zynischen, niemals gleichgültigen Haltung zur Gegenwart, dem sei dringend die Lektüre des Homicide-Bandes empfohlen. Wie in einem Spiegel wird darin Grafs eigene Leistung sichtbar, sein furchtloser Blick auf die Bruchstellen der Gesellschaft, die Schnittstellen zwischen Gut und Böse, an denen das brodelnde Unbewusste der Gesellschaft eine beschreibbare, kategorisierbare, manchmal sogar disziplinierbare Form erhält. „Aber solch einen zersetzenden Blick aufs Leben und auf sich selbst kann sich eine Gesellschaft und ein Land wie unseres, das sich permanent von einer politischen Utopie in die nächste schicken lässt, vielleicht nicht mehr leisten?“

Ein Film von Dominik Graf ist immer ein Geschenk. Danke. Glückwunsch.

Homicide Dominik Graf Diaphanes 2012, 128 S., 10 €

Im Angesicht des Fernsehens. Der Filmemacher Dominik Graf Chris Wahl, Marco Abel, Jesko Jockenhövel, Michael Wedel (Hg.), Edition Text + Kritik 2012, 275 S., 26 € Volker Hummel ist freier Filmkritiker

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