Allerschlimmste Irreführung

Sportplatz Kolumne

"Ich glaube, wenn man den Fußball zur Professorenarbeit macht, verliert man seine Wurzeln." Diesen Satz von Lothar Matthäus stellen Jürgen Mittag und Jörg-Uwe Nieland dem Vorwort des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes Das Spiel mit dem Fußball - Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen (Essen 2007) als Motto voran - sei es gewissermaßen entschuldigend gemeint, sei es, um zu signalisieren, sich der gängigen Reserviertheit gegenüber einer unterdessen umfänglichen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Fußball bewusst zu sein.

Die insgesamt empfehlenswerte 600-seitige Anthologie, die den einzigen ubiquitären Massensport unter historischen, politischen, medien- und kulturtheoretischen sowie ökonomischen Aspekten in seiner Ganzheit darzustellen versucht, bestätigt mitunter die Bedenken des größten Mittelfranken aller Zeiten - etwa wenn das "ästhetische Potential des Fußballs" allzu uninspiriert synoptisch verhandelt und dann auch noch ein ahnungsloser Allschwätzer wie Peter Sloterdijk zustimmend zitiert wird. In solchen Momenten wird deutlich, dass die Fußballwissenschaft in eine Phase eingetreten ist, in der sich die Geisteswissenschaften seit Jahren befinden: in jene der Redundanz, in der nicht selten Scheinprobleme gewälzt werden, die längst hinreichend beschrieben und diskutiert sind.

Gleichwohl, Das Spiel mit dem Fußball ist über weite Teile beachtlich sorgfältig gearbeitet und auch als eine Art Bibliographie lesbar. Vermisst habe ich zwar die Bombenerkenntnis von Ludwig Wittgenstein: "Fußball hat Tore, Völkerball nicht." Dafür wurde ich jedoch durch ein Thomas-Bernhard-Zitat entschädigt: "Wer für den Sport ist, hat die Massen auf seiner Seite, wer für die Kultur ist, hat sie gegen sich, hat mein Großvater gesagt, deshalb sind immer alle Regierungen für den Sport und gegen die Kultur."

Das hat sich neuerlich durch die Vergabe der Fußball-EM 2012 an Polen und die Ukraine bestätigt. "Wieder einmal ist der Fußball der Politik voraus", schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und lobte die Entscheidung der UEFA als eine "von seltener Hellsicht", denn die weiten Ebenen zwischen Oder und Don würden nun durch den Fußball erst so recht Teil eines friedlichen, geeinten Europas.

Was das für die kulturellen oder gar die sozialen und politischen Verhältnisse in Polen und der Ukraine bedeuten wird, erfuhr man nicht. Immerhin präsentierte die FAS aber "abschreckende Zahlen" in anderer Hinsicht: "Wenn bei der Fußballeuropameisterschaft 2012 die Fans durch die polnisch-ukrainischen Steppen von Stadion zu Stadion fahren, werden sie im Durchschnitt 12,5 Stunden unterwegs sein. Wer lieber auf die wildromantischen Züge der Staatsbahnen setzt, muß gar 17,5 Stunden kalkulieren."

Ja, man hätte vorher nur öfter mal Thomas Bernhard lesen sollen. Dann hätte man gewusst, dass die landschaftliche Weite in Polen und der Ukraine vom abscheulichsten ist. Die erschreckende Weite, die geistferne, ja geistlose Leere der Steppen der Ukraine und Polens ist vom fürchterlichsten, ist eine ungeheuerliche und durch nichts aufzuwiegende Zumutung, ist ein Ausdruck lebensfeindlichster, entsetzlichster Verwirrung.

Von "Direktflügen" zu reden, gab die FAS zu, käme der allerschlimmsten Irreführung gleich. Direktflüge, so die FAS, gebe es "kaum". Und selbstverständlich könne in einer solchen Gegend, in einer derart verlassenen, und das heißt verkommenen, Gegend, von Hotels, die den Namen Hotel verdienten, keine Rede sein, "die Hotels stellen die Ansprüche der UEFA ›nicht zufrieden‹", hieß es.

In dieser durch und durch ausweglosen, lähmenden, infamen Situation ist jedoch auch Positives zu vermelden: "Der polnische Fußball droht nämlich in einer Korruptionsaffäre zu versinken, seit ein Schiedsrichter der ersten Liga gutgläubig genug war, aus dem Kofferraum einer Limousine ein Handgeld von etwa 25.000 Euro entgegenzunehmen, ohne zu merken, daß der Bote ein Polizist war."

Der Fußball also ist, das dürfen wir abschließend erleichtert sagen, in ganz Europa in guten Händen.


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