Aufbruch Endlich gehen die Corona-Fallzahlen stark zurück, die Impfquote steigt steil an. Das normale Leben kehrt langsam zurück. Eigentlich ein Grund zur Freude. Oder doch nicht?
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Ich will noch nicht wieder ins Büro
Ich weiß nicht, wann ich vom Homeoffice ins Büro zurückkehren werde – und ob ich das überhaupt möchte. Mein Bild der viel beschworenen „Normalität“ hat sich im vergangenen Jahr grundlegend gewandelt. Noch leiste ich mir den Arbeitsplatz – weil er unschlagbar günstig ist, aber auch, weil ich das Miteinander mit dem Rest der Co-Working-Bande wirklich vermisse. Beim Gedanken aber, sich an der schmalen Küchenzeile gen Toilette durchschieben zu müssen, vorbei an Lunch-Artists und Hobby-Baristas, oder mit anderen im Fahrstuhl gen 5. Etage zu schweben, merke ich: Ich bin noch nicht so weit. Noch längst nicht. Trotz Erstimpfung. Natürlich ertrage ich den Anblick des heimischen Sch
imischen Schreibtisches nicht mehr. Natürlich bekomme ich nach fünf Minuten Zoom-Konferenz Kopfschmerzen. Doch bevor das Büro wieder Teil meiner „Normalität“ wird, gilt es andere Dinge zu erledigen. Menschen zu umarmen, zum Beispiel. Das ist das wichtigere Normal. Und wird mir die Kraft geben, meinen Arbeitsweg bis auf Weiteres auf drei Meter zu beschränken. Thaddeus HermannWir werden Mut brauchenUnfassbare sieben Monate dauert nun schon der kulturelle Lockdown. Die Kinos sind zu, die Theater, die Konzerthallen. Um einen oscargekrönten Film zu sehen oder eine Theaterpremiere, setzt man sich gewohnheitsmäßig aufs Sofa vor dem Flachbildschirm; das ist ebenso bequem wie einsam. Das Gemeinschaftserlebnis dagegen, bei dem der ganze Saal an der gleichen Stelle lacht oder weint – es ist nur noch eine blasse Erinnerung. Nun wollen bundesweit am 1. Juli die Kinos wieder öffnen, die ersten Theater und Opernhäuser gehen sogar schon im Juni an den Start und zumindest Open-Air-Konzerte sind auch wieder geplant. Nur: Wird dann alles wieder so sein wie früher? Die Gesichtsmasken jedenfalls werden uns vorerst erhalten bleiben, ebenso der leere Sitzplatz direkt neben einem. Und später dann, wenn einer im Publikum heftig niest: Überhören wir das gelassen, oder steigt in uns doch klammheimlich die Corona-Sorge auf – trotz Impfung? Wir werden schon etwas Mut brauchen, um uns das kulturelle Leben zurückzuerobern. Philip GrassmannUnd jetzt alle wieder rein ins FlugzeugNach Neuseeland würde ich gerne einmal reisen, in Kanada war ich noch nicht, Malawi lockt schon lange. Aber eigentlich will und muss ich da gar nicht hin – zu großer ökologischer Fußabdruck, schamlos, dekadent, wozu gibt es Virtual-Reality-Brillen! Die Pandemie hat die Verletzlichkeit unserer zerstörerischen Lebens- und Wirtschaftsweise klar vor Augen geführt – und Langstreckenflüge wie Urlaubstrips erst mal gecancelt. Aber es ist ja längst schon wieder losgegangen: der Vater, der mit seinem Kind, dessen Freunden und deren Eltern zum gemeinsamen Homeschooling nach Lanzarote flog, in Absprache mit der Schule. Vielleicht trafen sie den Nachbarn, der dort jüngst zwei Monate Homeoffice gemacht hat. Und die Bekannte fiebert schon, wann sie nun endlich die Safari in Botswana nachholen kann. Jaja, nichts gegen das Reisen, aber es bräuchte einen Deckel. Corona wird kaum für einen solchen gesorgt haben. Vor allem die Privilegierten kehren, nicht nur beim Reisen, zurück zur elendig enkeluntauglichen Normalität. Sebastian PuschnerWann nehmen wir endlich die Maske ab?Am Anfang der Pandemie wurde dem Händewaschen eine große Bedeutung zugesprochen. Man erinnert sich an lange Sprüche, die man zum Waschen aufsagen sollte. Für Menschen mit Waschzwang waren das gute Zeiten, ihr Leiden bekam plötzlich einen Sinn, ja, die ganze Gesellschaft wurde ihnen ähnlich. Bald verlagerte sich das Geschehen auf den Schutz von Mund und Nase mittels einer Maske. Die Desinfektionsspender blieben stehen, für den Neurotiker eine Erinnerung an glücklichere Zeiten. Dass es einen Maskenzwang im gesundheitspolitischen Sinn gibt, ist klar, ob ihn auch die Psychologie kennt, weiß ich nicht. Aber etwas von der großartigen Macht der Neurose zeigt sich noch, wenn jetzt auffällig oft betont wird, dass auch Geimpfte die Maske weiter tragen müssen. Zu Beginn der Pandemie wurde gesagt, sie werde unser Leben grundlegend ändern, ich habe das nie so recht geglaubt, der Mensch ist nun einmal ein Gewohnheitstier. Aber sind Gewohnheiten nicht einfach ein anderes Wort für Neurosen, unter denen wir nicht besonders leiden? Michael AngeleVerweile, oh du Sehnsucht nach NäheFür mich als impulsiven Menschen war das Kommunizieren mit anderen während der Pandemie ein Geschenk. Während des Ausnahmezustandes waren alle dort, wo ich sowieso immer bin: am Rande des Nervenzusammenbruchs. Vorher stieß ich wegen meiner unabgegrenzten Überschwänglichkeit oft auf gerunzelte Stirnen, hochgezogene Augenbrauen und Kopfschütteln. Aber nun hatten alle dieses übertriebene Mitteilungsbedürfnis, diese peinliche Emotionalität, diesen Drang zum „oversharing“, selbst flüchtigen Bekannten gegenüber, denen man zufällig auf der Straße begegnet war. Endlich spürten alle diese existenzielle Angst und Einsamkeit und die daraus folgende Sehnsucht nach Trost und Nähe. Oh ja, schnüff, es ist so schön, wenn man bekommt, was man will, und gewollt wird, was man zu geben hat – und Entschuldigung, mir kommen gerade die Tränen, ich habe Angst, dass das bald wieder vorbei ist und ich mit meinen Feelings wieder alleine dastehe, aber NOCH könnt ihr mich verstehen, oh ja, spürst du das auch? Ruth HerzbergDann gehen halt ein paar Firmen pleiteDas ist dann auch ein Teil der von vielen geforderten Rückkehr zur Normalität“, sagte jüngst der Chef des Berufsverbands der Insolvenzverwalter Deutschlands laut tagesschau.de – und meinte die sich abzeichnende Welle von Firmenpleiten. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen wird es wohl treffen, dass die Aussetzung der Involvenzantragspflicht noch vor der Lockerung der Lockdown-Politik vielerorts beendet wurde. Das geht auf die Union zurück, die Parteienfamilie, in deren Verantwortung das Ministerium für Wirtschaft liegt, welches wiederum den Hut für die teils katastrophale Handhabung der Hilfszahlungen aufhat. Bei CDU und CSU ist nun einmal der Glaube verbreitet, es sei unter allen Umständen normal, wenn der Markt sich „bereinigt“ und Existenzen hopsgehen. Makroökonomisch sehnt Olaf Scholz die Normalität der Schuldenbremse zurück, Mega-Investitionsbedarf hin oder her. Zumindest ist es längst nicht mehr normal, dass die SPD den Kanzler stellt. Sebastian PuschnerEinmal sollte man einfach springenAls ich Kind war, sprang ich vom Dreimeter. Kopfüber in den blauen Abgrund. Ich erinnere die erste Überwindung, die Angstlust – einmal oben, gab es kein Zurück, hinter einem drängelten schon die mit Ur- und Selbstvertrauen. Ich erinnere das Freiheitsgefühl, ich hatte freilich keine Worte dafür. Mein Sohn war neun, als er endlich über sich hinauswuchs und sprang. Ins Freibad darf er nun mit einem Negativtest, das ist vernünftig, aber der Sprungturm bleibt zu, egal was Aeresolforscher sagen. Zurück in den Präsenzunterricht muss er vor den Ferien nicht mehr, zu kompliziert, heißt es. CDU-Bundesbildungsministerin Anja Karliczek findet ohnehin, die Kinder brauchten Zeit, „sich wieder selbst zu finden“. Nur, wie soll diese Selbstfindung aussehen? Per „Impffahrplan“ für Kinder ohne Diskussion? Und solange auf Bahnen im Kreis schwimmen? Kann man machen, vielleicht wird das Kind als Erwachsener nie ein Risiko abwägen, niemals in ein kaltes Wasser springen. Katharina SchmitzGar nicht mehr in Präsenzstudieren?Sehr, sehr langsam kehrt sie an die Universitäten zurück, die Rückkehr zur Präsenzlehre soll – so etwa der Plan an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität – im Wintersemester 2021/22 nach „Prioritätsstufen“ erfolgen. Da wahrscheinlich nur sukzessiv und nicht vollständig geöffnet werden kann, wird schon jetzt eingeteilt. „Prioritätsstufe 1“ umfasst die Studienanfänger:innen, die besondere Fürsorge verdienen und in die Hochschule dürfen. Was aber wird mit jenen Kohorten, die gegenwärtig im dritten Digitalsemester studieren und auch von Oktober an keine direkte Kommunikation in Seminaren und Vorlesungen erleben werden? Nach den Vorstellungen unserer Universitätspräsidentin soll es für den Winter einen Anteil von 15 bis 30 Prozent Präsenzlehre geben. Ist damit nicht Drängelei vorprogrammiert? Und Unlust auf weitere Zoom-Sitzungen? Inzwischen haben wir Studierende, die sich auf ihren Masterabschluss vorbereiten und die HU noch nie von innen sahen. Das können wir nicht wollen. Ralf Klausnitzer