Ewiger Frieden
Es war einmal ein Großmanöver, das zigtausende Waffen und Soldaten einflog als Speerspitze gegen jegliche Bedrohung. Defender bedeutete, mehrere Tausend Kilometer an die russische Grenze zu rollen, um dort abzuschrecken. Die Friedensbewegten protestierten ohne Hoffnung, der Marsch von 28 Staaten in den Osten sei eine überflüssige Drohgebärde, ein verheerender Beitrag zur Klimakatastrophe und Verschwendung von Geld und Ressourcen. Noch bevor Mann und Maus Straßen und Schienen verstopften, wurde die Übung kontrolliert beendet. Kriegsschiffe drehten auf dem Atlantik um. Ein unsichtbarer Feind war aufgetaucht, der unter jedem Radar hindurchflog, sich von nichts abschrecken lies und totbringend das öffentliche Leben auf dem Globus lahmlegte. Die Soldaten mit ihren schweren Geschützen waren machtlos und traten die Heimreise an. Die Blamage über das falsche Konzept von Sicherheit war überwältigend. Fortan verteidigte man sich weltweit gemeinsam gegen kaputtgesparte Gesundheitssysteme und Lungen verpestenden Smog. Gegen Hunger und Armut wurde auf Rat von Immanuel Kant ein Weltbürgerrecht erlassen. Zum ewigen Frieden waren es nur noch wenige Meter. Daniela Dahn

Illustration: der Freitag
Digital ist besser
Corona, so viel lässt sich jetzt schon sagen, hat in wenigen Tagen mehr für die Digitalisierung getan, als es Flehen und Betteln von abertausenden Onlinern je vermocht haben. Ein Geist ist aus der Flasche, und er wird sich nicht wieder in selbige sperren lassen, wenn diese Krise endlich überstanden ist. Dass das so ist, hat nicht nur gute Seiten, natürlich: Privat- und Arbeitsleben zu vermengen, ist auf Dauer nicht gesund. Aber zumindest das augenzwinkernde Narrativ, das in Chefetagen gern gepflegt wird, dass nämlich ein Tag im Home Office nicht mehr als ein bezahlter Urlaubstag sei, kann nun endgültig ins Reich der Fabeln verbannt werden. Ein anderes Arbeiten ist nicht nur möglich, es kann auch produktiver und nachhaltiger als jenes der Generation Anwesenheit sein. Die jetzige Krise wird in vielen Firmen nicht nur auch, sondern gerade von denen geschultert, die sich sicher und gewandt in digitalen Büroräumen bewegen. Das wird in Zukunft selbst in eher klassisch aufgestellten Unternehmen nicht nur mit Staunen, sondern sowohl mit Respekt als auch der entsprechenden Vergütung für die Betriebsrelevanten goutiert werden. Mit einem Vierteljahrhundert Verspätung bekommen Tocotronic also endlich recht: Digital ist besser. Für alle. Jan Jasper Kosok
Wir entscheiden
Corona hat die Welt aus der Bahn geworfen, das hätte ja ohnehin geschehen müssen: aus Gründen der ökologischen Krise. Aus der Bahn sein birgt die Chance, zur Besinnung zu kommen. Wir üben jetzt alle „Verzicht“, Steinmeier hat davon gesprochen und es ist keine Forderung wie bisher in der Ökologie, sondern eine Tatsache. Ich wünsche mir, dass der bevorstehende wirtschaftliche Neuanfang zur Demokratisierung der Wirtschaft führt, das heißt zur Abschaffung der kapitalistischen Herrschaft über die Märkte. Dazu, dass wir in allgemeinen, freien und gleichen Wahlen entscheiden, welche Güterarten produziert werden dürfen und welche nicht. So wie Trump jetzt über General Motors entscheidet! Aber dass wir es tun, die ganze Gesellschaft. Wenn wir uns dieses Recht erkämpfen, haben wir auch die Kraft, vom gegenwärtigen „Verzicht“ nicht gleich wieder in die erdvernichtende Völlerei zurückzufallen. Denn auf die Erde wollen wir doch nicht verzichten. Michael Jäger
Promenadologie
Bizarr, aber irgendwie auch schön, an einem Nachmittag ein Interview mit dem Promenadologen Martin Schmitz zu hören. Der wird vorgestellt als Professor für Spaziergangswissenschaften (engl: Strollology) und begründet gekonnt seinen spaziergangswissenschaftlichen Ansatz. Der geht zurück auf den Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt. Schmitz erinnert mich an einen ganz anderen Mann, Ian Sinclair, Psychogeograf, ein Beruf, den man im nächsten Leben ergreifen könnte. Sich seine Texte erwandern, das scheint gerade das höchste Maß der Freiheit zu sein. Und „Der Rand des Orizonts“ ist ein schönes Buch, in dem sich Sinclair auf die Spuren des Dichters John Clares begibt, der vor mehr als 150 Jahren aus einer Nervenheilanstalt ausbrach und in sein Heimatdorf zurückkehrte. Eine beschwerliche Wanderschaft voller Wehmut und Melancholie. Promenadologie war früher ein Nebenfach. Kaum zu glauben. Kathrin Gerlof
Rückkehr des Verdrängten
Der einstige US-Verteidigungsminsiter Donald Rumsfeld sprach auf einer Pressekonferenz 2002 davon, dass es known knowns gibt, Dinge, die wir wissen. Ebenso gibt es known unknowns, Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen. Schließlich gibt es noch unknown unknowns, Dinge von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen. Mit Verweis auf letztere wollte Rumsfeld überspielen, dass die USA keine Beweise für Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen hatten. Der Philosoph Slavoj Zizek bemerkte kurze Zeit später, dass es indes noch eine vierte, viel entscheidendere Kategorie gibt: unknown knowns, also Dinge, die wir eigentlich wissen, aber nicht wissen wollen. Die Coronakrise hat gleich eine ganze Reihe dieser kollektiven unknown knowns offengelegt. Dass Supermarktkassierinnen und Pflegekräfte unterbezahlt sind, das Gesundheitssystem strukturell überlastet ist, die Landwirtschaft auf oft ausbeuterischer Arbeitsmigration beruht – all das ist natürlich eigentlich bekannt, wird im gesellschaftlichen Normalbetrieb jedoch immer wieder erfolgreich verdrängt. Der aktuelle Ausnahmezustand erscheint in dieser Hinsicht als eine Art Rückkehr des Verdrängten. Bleibt zu hoffen, dass das einen therapeutischen Effekt für die Post-Corona-Welt hat. Nils Markwardt
Corona überwinden
Ich wünsche mir eine Orwellsche Sprachkorrektur nicht im dystopischen, sondern im utopischen Sinn. Wenn das alles vorüber ist, darf man über den ****19 nur noch sprechen wie es alle bei Harry Potter über Voldemort tun. Die Welt sagt dann, Er, dessen Namen man nicht genannt werden darf. Du weißt schon, wer. In allen Sprachen werden die Leute so über ihn reden und wissen, wer gemeint ist. Nur wer ein Gegenmittel hat, darf ihn aussprechen. Ebenso Bonds werden keinesfalls nach ihm benannt werden, das empfehlen Psychoanalytiker und vermutlich tun sie gut daran. Auch das gleichnamige Bier gehört umbenannt. Meine Söhne werden Bierbrauer in der Eifel, vielleicht in Bitburg. Das nachhaltige Bier aus fairem Anbau wird Immuni heißen. Eine Null-Promille-Variante kommt auf den Markt, kosher und halal wird es besonders tolerabel sein. Und alljährlich gibt es ein Fest, auf dem auch italienische Arien gesungen werden. Katharina Schmitz
Anders unterwegs
Während Andreas Scheuer und Ulf Poschardt frühverrentet zusammen „Need for Speed“ zocken, hat sich die reale Welt erneuert. Mobilitätsliebende reisen entspannt mit der Bahn, Autobahnen weisen maximal Tempo 120 aus, Innenstädte sind von Automasse befreit. Die neue Verkehrsministerin hat zusammen mit den Bürger*innen drei Gemeinwohl-Indikatoren entwickelt, nach denen alle verkehrspolitischen Maßnahmen gestaltet werden: 1. Dient es der Mehrheit? 2. Schützt es die Schwächsten? 3. Ist es klimafreundlich und zukunftsfähig? Klimaneutrale Mobilität wird nun vom Staat belohnt und aktiv gefördert. Öffentlicher Nahverkehr hat immer Vorrang vor dem mobilisierten Individualverkehr. Die Ampelschaltungen sind auf die Bedürfnisse des Fußverkehrs abgestimmt. Angenehme Wege bieten Platz zum entspannten Flanieren oder Radeln. Kinder gehen selbstverständlich und sicher ohne Eltern zur Schule und spielen draußen. Dort wo vor der Pandemie einschüchternde Vans parkten, sind nun liebenswürdige Plätze entstanden. Ältere treffen sich zum Klönen, Jüngere zum Schnacken. Kerosin wird gebührend besteuert und Parkraum gesteuert mit Gebühren versehen. Game over für die Jungs an den Konsolen. Am Controller sitzt jetzt das Gemeinwohl! Oda Hassepaß
Haltet Maß
Die Erfahrung seit Auftauchen des Virus lautet: So wie die Natur im Menschen zum Bewusstsein ihrer selbst kommt, kann sie es darauf anlegen, ihre mutmaßlich höchste Entwicklungsform preiszugeben und mit dem Bewusstsein zu versorgen, ihr ausgeliefert zu sein. Heißt das, die erfahrene Schutzlosigkeit wird „nach dem Virus“ anders als durch Verdrängung „verarbeitet“? Die Rückkehr zur Norm unterdrückt erfahrungsgemäß schnell und zuverlässig die Erinnerung an Auszeiten von der Norm. „Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen“, warnte einst Bertolt Brecht seine Landsleute. Was hat es gebracht? Es wird kaum mehr als ein Schulterzucken wert sein, dass die Erkenntnis, wonach durch den Verzehr von Affenhirn das HI-Virus in den menschlichen Organismus kam, nicht bis zum Wildtiermarkt von Wuhan vordrang. Und wenn es so war, dann wohl gleichmütig quittiert wurde. Insofern wird der Vorsatz, man müsse stets bedenken, was der Mensch durch Leichtsinn oder Hochmut anrichte, nur eine Floskel sein. Das Rätsel der Maßlosigkeit wird dadurch nicht gelöst, denn es ist keines. Lutz Herden

Illustration: der Freitag
Freies Internet
Das, was wir heute kritische Infrastruktur nennen, darf morgen nicht vergessen sein. Staatliche Daseinsvorsorge, die Bereitstellung öffentlicher Güter, die Gewährleistung von basalen Rechten – all dies hat in der Krise seine existenzielle Bedeutung gezeigt. Die bedenkenlose Übertragung staatlicher Verantwortung in die Hände privater Akteure sollte ein Ende haben. Das betrifft auch bislang vollständig privatisierte und kommerzialisierte Bereiche. Wenn Kommunikation über digitale Medien und das Internet lebenswichtig werden, so braucht es auch hier eine Grundversorgung, die für alle zugänglich ist. Genauso wie es ein Recht an unseren Daten geben sollte, brauchen wir ein öffentlich-rechtliches Internet, das uns von den Monopolisten der Digitalisierung unabhängig macht. Hochschulen, Bildungsträger, Schulen, öffentliche Einrichtungen, Museen und Bibliotheken könnten profitieren, ebenso jeder einzelne Bürger, jede Bürgerin. Steffen Mau

Illustration: der Freitag
Alle sind gleich
Ich wünsche mir, dass die Menschen nach der Corona-Krise alle gleich groß bzw. klein sind. 1 Meter 50 müsste reichen, denke ich. Aber das sollen die Experten festlegen. Die Nivellierung müsste durch eine letzte Mutation des Virus geschehen, wie das gehen kann, soll sich die Metaphysik überlegen. Dafür bezahlen wir die ja, sogar besser als die Virologen, die mir ehrlich gesagt gerade auf die Nerven gehen. Aber ich drifte ab. Die Idee, das alle Menschen gleich klein sein sollen, ist mir eben hier am Tisch gekommen, ich sitze mit meinem Sohn beim Lernen, der bald zehn wird, aber nur 1 Meter 30 misst. Er wird gehänselt, oder man tut wenigstens verwundert, dass er nicht „sieben oder so“ sei. Sohnemann ist tapfer, und ich muss ihm dann bestätigen, dass man auch als Kleiner ein großer Fussballspieler werden kann. Er weiß: Bei der letzten WM gab es einen Spieler, der war 1 Meter 63 groß, so stand es auf dem Panini-Bild, Name grad vergessen. Ich ergänze: Ribery 1,70, Messi 1,69, Maradona 1,65. Solche Durchhalteparolen müssen nicht sein. Also, 1 Meter 50, weltweit. Michael Angele
Ein faires System
Am naheliegendsten ist wohl das Ende des zweigleisigen Gesundheitssystems, sprich: die Abschaffung der privaten Krankversicherung. Durch die Zusammenschließung wäre endlich echte Solidarität gewährleistet, Gelder fair verteilt, Beiträge würden sinken, die Versorgung verbessert. Spätestens jetzt sollte erkannt werden, dass Krankenhäuser, -kassen und Pflegeeinrichtungen keinem profiorientierten System unterworfen werden dürfen, das kaputtgespart wird.
Alle staatlichen Hilfspakete sind fehlgeleitet, denn es profitieren immer nur einzelne Gruppen, meist Unternehmen und Unternehmer. Aber was ist mit den Arbeitnehmern? Diejenigen, die wegen Corona entlassen wurden, und deren Firma trotzdem die Soforthilfe einstreicht? Viele solcher Beispiele sind der Grund, um soziale Flickenteppiche zu beenden und allen Menschen Sicherheit zu geben und Abstiegsangst zu nehmen. Wir brauchen das bedingungslose Grundeinkommen. Gleichzeitig sollten wir endlich erkennen, dass nicht nur Banken „systemrelevant“ sind, sondern auch Erzieher, Kassierer, Postboten, Pfleger, etc. Sie verdienen angemessene Löhne, von denen sie leben und auch für Urlaube und Rente sparen können sollten. Plötzlich merken wir, wie wenig wir das Auto benötigen. Wenn nun der öffentliche Nahverkehr wieder auf den regulären Fahrplan umsteigt, warum nicht gleich die Taktung erhöhen, Preise senken, das Netz erweitern, Sharing-Dienste fördern? Sozialer fahren nach dem social Distancing. Der Verzicht auf das eigene Auto bedeutet nicht Verzicht auf das Autofahren. Aber weniger, ohne benachteiligt zu sein. Boris Kunofski

Illustration: der Freitag
Die Nato wird zivil
Sommer 2022: Auf Anregung von US-Präsident Joseph Biden beschließt der Nordatlantikrat beim Nato-Gipfeltreffen in Bergamo die schrittweise Umwandlung des Militärbündnisses in ein Sanitäts- und Umweltbündnis. Damit greift Biden eine alte Idee seines Amtsvorgängers Richard Nixon auf. Dieser wollte die Nato bereits 1969 (!) mit einem „zivilen Standbein“ versehen, um globale Bedrohungen wie den Treibhauseffekt wirksamer bekämpfen zu können. Die 30 Nato-Staaten verpflichten sich außerdem, bis 2030 zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts in die Beschaffung und Lagerung medizinischer Ausrüstung (Rettungszentren, Labors, Lazarettschiffe, Beatmungsgeräte, Schutzkleidung, Medikamente etc.) zu investieren. Ein Drittel des derzeitigen Militärbudgets von 1,5 Billionen Dollar soll in den Aufbau eines weltweiten Sanitätsdienstes fließen. Artikel 5 des Nordatlantikvertrags wird dahingehend geändert, dass der Bündnisfall auch bei Klimakatastrophen und Epidemien ausgerufen werden kann. Nach Angaben der designierten Nato-Generalsekretärin Annalena Baerbock ist vorgesehen, die Nato bis 2050 durch einen ökosozialen Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen abzulösen. Wolfgang Michal
Die Welt im Jahr 2030
Ostern 2030. Der Papst spricht nun alle katholischen Corona-Opfer selig. Bundespressekonferenzsprecher Augstein gibt die Anwerbung weiterer 100.000 Afrikaner*innen zum Recycling von Autos und Flugzeugen bekannt. Greta Thunberg wechselt von der Transtalantischen Ruderschifflinie zur Grönländischen Avocado-Holding. Altkanzler Habeck wird Vorstandsvorsitzender der BMW-Daimler-Südwind. Till Lindemann lädt zur traditionellen Fledermausspeisung für mittelose Politiker. Trotz Alzheimer moderiert Heidi Klum die 20. Staffel von Deutschland sucht den Superpfleger. Das europäische Kartellamt hat keine Einwände gegen die Übernahme der Zeit durch den Freitag. Suhrkamp gibt bekannt, dass Durs Grünbein Uwe Tellkamps unvollendeten Roman zu Ende schreiben wird. Jede zweite Deutsch*in trägt ein Mundschutz-Tatoo. Ich bereue immer noch nicht, das nur von unten ansehen zu können. Erhard Schütz
Schulden erlassen
Das 3. Buch Mose trug den Israeliten auf, alle 50 Jahre ein Jubeljahr abzuhalten, in dem alle Schulden erlassen werden, angezeigt durch das Blasen in ein Widderhorn, den „yobel“. Auch wir werden nach der Coronavirus-Pandemie hoffentlich gesund, aber hoch verschuldet da stehen: Unsere Regierungen jedenfalls, die das künstliche ökonomische Koma auf Pump bekämpft haben. Anstatt uns zu streiten, wer all die Schulden begleichen soll und wie die Schuldenlast zu verteilen wäre, sollten auch wir ein Jubeljahr folgen lassen. Denn das Wichtigste wird sein: Den Fehler zu vermeiden, der auf die Finanzkrise 2008/2009 folgte, jene tödliche Austeritätspolitik, an der wir und vor allem die Länder des Südens bis heute leiden, um unsere Schulden aus der Bankenrettung abzubezahlen. Am besten ginge dies so: Ein Europäischer Fonds kauft all die drückenden Schuldenberge auf, ja, auch die nicht mehr bedienbaren Staatsschulden von Italien und Griechenland, und dann erlässt er sie, wie nach einem Krieg, für einen Neubeginn. Welch ein Jubel. Pepe Egger
Pfleger*innen werden angemessen bezahlt
Nach der glimpflich überstandenen Coronakrise wird klar, dass Pflegekräfte und Krankenhausmitarbeiter vom fröhlichen Liedersingen und Klatschen am offenen Balkon weder die Miete leichter zahlen können noch die verlorenen Nerven zurückerhalten. Im postcoronaischen Deutschland bricht ein flächendeckender Pflegestreik aus, der sichtbar macht, was auch vorher alle wussten: Diese Kräfte werden dringender gebraucht denn je, sie werden dennoch schlecht bezahlt und müssen unter extrem harten Bedingungen arbeiten. Nachdem der Streik innerhalb von zwei Tagen fast das gesamte Gesundheitssystem (erneut) zum Erliegen gebracht hat, wird Deutschland das erste Land, das Pflegekräfte so gut bezahlt wie Assistenzärzte (statt aktuell knapp 2.800 Euro brutto bis zu 4.000 Euro brutto). Die Ausbildung gewinnt an Ansehen, immer mehr junge Menschen entscheiden sich aus ökonomischen und ideellen Gründen für den Pflegeberuf. Zudem wird am 1. Mai eine gewerkschaftliche Parade für die systemrelevanten Berufsgruppen abgehalten, die die Errungenschaften des jüngsten Arbeitskampfes feiert. Geklatscht werden darf nur noch da. Konstantin Nowotny

Illustration: der Freitag
Reiche besteuern
Der Steuerforscher Stefan Bach lacht ungläubig, als er sich an 2017 erinnert: Mit Kollegen hatte er damals die Untersuchung Wer trägt die Steuerlast? vorgestellt, bezeichnendes Ergebnis: Die einkommensärmsten zehn Prozent waren seit 1998 um 5,4 Prozent härter besteuert worden, das oberste Prozent hatte eine Entlastung um rund fünf Prozent ihres Haushaltsbruttoeinkommens feiern können. Die Neuauflage der Studie 2027 macht deutlich, wie sehr sich die Dinge in Deutschland verändert haben: die Ärmsten wurden seither um fünf Prozent entlastet, die Reichsten um im Schnitt zehn Prozent stärker in Verantwortung genommen. Den Paradigmenwechsel eingeleitet habe sicherlich die unausweichliche Vermögensabgabe Anfang 2021, der bald die Reaktivierung von Vermögens- und Erbschaftssteuern folgen sollte. Bach erzählt noch von der bevorstehenden Veröffentlichung der Analyse einer Kollegin: demnach sei die ad-hoc-Einführung einer europäischen Digitalsteuer im Sommer 2020 einer der Faktoren gewesen, die den heutigen Boom kleiner genossenschaftlicher, gemeinwohlorientierter Unternehmen ausgelöst hat. Zu offensichtlich hatten sich in der Corona-Krise die Monopolisierungstendenzen zugunsten nunmehr vergesellschafteter Digitalkonzerne wie Amazon verschärft, alsdass dies hätte folgenlos bleiben können. Sebastian Puschner
Kooperation der Wissenschaft
Wirklich kühn, schrieb der amerikanische Virologe Nathan Wolfe nach dem Abklingen der vergangenen Pandemien, sei die Vorstellung, wir könnten einmal „die letzte Seuche“ vermelden und den Begriff aus unserem Sprachschatz streichen. Er glaubt an das Zusammenspiel von Technologie und modernen Kommunikationsmitteln, die es erlauben, überspringende Viren frühzeitig aufzuspüren. Das ist vielleicht zu optimistisch. Aber vielleicht könnte die Welt aus dieser Pandemie lernen und Kooperation auf e einem Feld kultivieren, auf dem normalerweise Konkurrenz und Wettlauf herrscht, die Wissenschaft. Denn entgegen anderslautender Lippenbekenntnisse folgt die aktuelle Jagd nach Medikamenten und Impfstoffen Prinzipien, die das ganze System bestimmen: Privatisierung der Profite, Vergesellschaftung der Risiken. Würde künftig global überlebenswichtiges Wissen der privatrechtlichen Aneignung entzogen, wäre dies ein erster Schritt in Richtung jener „globalen Allianz“, die Bundespräsident Steinmeier nur beschwört. Ulrike Baureithel
Kann sich einschleifen
Es ist gerade so eine Sache mit Utopien. Mein Mann erhält WhatsApp-Nachrichten, in denen vom neuerdings glasklaren Wasser in Venedigs Kanälen die Rede ist oder von Delfinen, die man jetzt wieder sehen kann. Sie machen ihn aggressiv, diese schönen Bilder. Er ist Italiener. Bei uns sterben jeden Tag Menschen, Leute verlieren ihre Jobs, sie sind verzweifelt, sagt er. Eine Bekannte, die Ärztin ist, moniert: Die Menschen sollen aufhören für uns zu klatschen, lieber gegen die Zustände in Krankenhäusern protestieren. Ist das zu extrem? Ich sehe auch Positives: einen Vater, der sich intensiv mit seinen Kindern beschäftigt, sie können plötzlich Schleife binden. Bruder und Schwester, die Spiele erfinden, Fantasie, auch im Streit schlichten. Sie müssen ja klarkommen. Es ist für alle ein unfreiwilliger Crash-Kurs, für weiche Eltern auch in Konsequenz: Mama arbeitet, Papa geht mit euch raus, keine Diskussion! Das kann ruhig noch eine Weile anhalten. Dazu bitte unbedingt Aperol Spritz. Maxi Leinkauf
Eine neue Kllimapolitik
In Krisensituationen wie Corona lernen wir alle den Verzicht: Um uns und andere zu schützen, gehen wir weniger raus, verzichten auf Tanzabende, Reisen und Fußballspiele. Die meisten Menschen machen das freiwillig – weil es Sinn macht, solidarisch ist und Leben rettet. Nehmen wir die Klimawissenschaft ernst, dann ist das Lungen-Virus nur ein kleiner Vorgeschmack auf das Leben im permanenten Ausnahmezustand. Ob Pandemie oder Klima: Beide Krisen haben eines gemeinsam: Je besser die Prävention und Resilienz einer Gesellschaft sind, umso besser können negative Folgen eingedämmt werden.
Bei Corona heißt das: Je weniger Menschen sich anstecken und je besser das Gesundheitssystem, desto milder die Pandemie, Stichwort #flattenthecurve. Beim Klimawandel ist es ähnlich: Je weniger CO2 in die Atmosphäre gelangt und desto besser Städte und Gemeinden sich rüsten, desto erträglicher die Folgeeffekte wie Temperaturanstieg, Wetterextreme und soziale Konflikte. Stichwort #mitigation (z.dt. Abmilderung). So wie die Menschen derzeit präventiv zu Hause bleiben und bei Verstößen Strafen zahlen müssen, könnte es auch im Klimaschutz aussehen: Die Politik könnte nationale CO2-Budgets oder Klimarechte ausgeben. Jeder Mensch erhält Freifahrtscheine zum Verschmutzen, wer mehr CO2 verbraucht, muss Bußgelder bezahlen, Ausnahmen beantragen oder sich Rechte zukaufen. Fossile Brennstoffe werden so zum Luxus. Sozial verträglicher wäre ein Bonus-Malus-System: CO2-intensives Verhalten würde durch Besteuerung oder die CO2-Budget-Regel nicht nur teurer, sondern klimafreundliches Verhalten würde sogar entlohnt – beispielsweise mit spürbaren Steuernachlässen oder Weihnachtschecks am Jahresende. So würde sich langsam aber sicher einprägen: Wenn ich keine Prävention betreibe, kommt mich das teuer zu stehen – meinem Geldbeutel und der Gesellschaft. Und wenn ich die Bahn statt den Linienflug nehme, dann werde ich sogar belohnt. Ähnlich wie bei Corona: Bleiben wir alle zuhause, sind weniger Menschen krank – und ich selbst bleibe auch aller Wahrscheinlichkeit nach gesund. Susanne Götze
Entschleunigung
In der Krise wurde der Marktwirtschaft ein verheerendes Urteil ausgestellt: Nicht lebensnotwendige Produktion stilllegen, das hält sie nicht lange aus. Ökonomische Resilienz? Fehlanzeige. Diese wäre geboten: Pandemien, so hört man, wird es künftig öfter geben. Resilienz erfordert den Ausbau einer Grundversorgung für alle, das Vorhalten von Kapazitäten. Das aber geht nicht, solange Profitmaximierung darüber bestimmt, was produziert wird. Wir selbst, als Gesellschaft, müssen künftig entscheiden. Derzeit werden Beatmungsgeräte statt Autos, Desinfektionsmittel statt Parfüm und Mundschutzmasken statt Anzüge produziert. Gut so. Nach #Corona reden wir weiter: Mehr Personal in die medizinische Versorgung? Ausbau öffentlicher Nahverkehr, weniger Autos? Handys mit langem Lebenszyklus? Solarpanels statt Braunkohle? Wohnungen für alle, statt Luxuslofts für Wenige? Roboter in die Produktion, mehr Muße für die Menschen? Es wird die nächste Pandemie nicht verhindern. Allgemeine Entschleunigung aber, das würde niemanden mehr in Panik versetzen. Sabine Nuss
Zurück zum Pop
Ich freue mich auf Last Christmas. Ganz ehrlich. Das Schlimmste aller Weihnachtslieder, ich will es wieder hören. Ich will, dass Wham im Radio rauf und runter gedudelt wird. Der Schrecken wird vorbei sein, meine chronische Bronchitis und ich, wir werden noch da sein und hoffentlich auch alle unsere Freunde. Last Christmas soll es sogar schon als Kinofilm geben. Muss ich sehen, aber erst Weihnachten. Heiligabend nach Corona spielen wir endlich Sissy-Saufen. Das wollte ich schon immer mal tun: Wir schauen uns alle drei Teile an. Und jedesmal wenn jemand „Majestät“ ruft, heben wir einen. Oder: „Franz!“ Karsten Krampitz

Illustration: der Freitag
Boden gehört allen
Wenn die Menschen Fische wären, hätten sie längst das Meer privatisiert. Das mag für uns Landtiere seltsam klingen. Aber warum finden wir es normal, dass unser Grund und Boden den Kräften des Marktes ausgeliefert ist? Das wäre in einer besseren Welt ganz anders. Wir hätten verstanden, dass selbst eine Seuche die Besitzenden von den Nichtbesitzenden trennt: enge Mietwohnungen hier, Eigenheime mit eigenem „Auslauf“ dort, das macht einen großen Unterschied, wenn man zu Hause bleiben muss. Ab sofort würde die öffentliche Hand Grundstücke nur noch in Erbpacht vergeben, vorrangig an Firmen oder kollektive Wohnprojekte, die gemeinnützig und sozial ausgewogen bauen. Dann würden die Grundstücke spekulierender Investoren vergesellschaftet. Schließlich würden die Kommunen den Boden Stück für Stück vollständig übernehmen. Private Eigentümer bekämen Erbpachtverträge über mehrere Generationen, ihr Häuschen könnten sie behalten. Aber die Spekulation Weniger auf Kosten der Vielen hätte ein Ende. Stephan Hebel
Roboter einsetzen
Systemrelevant sind die Jobs, in denen man schlecht verdient. Das war die Erkenntnis in der Pandemie. Die Mär von der Leistungsgerechtigkeit verfing nicht mehr, schließlich schufteten Krankenschwestern, Straßenbahnfahrer und Erntehelfer rund um die Uhr, aber ihre Miete konnten sie trotzdem kaum stemmen. Während die Firmenerben angesichts des staatlich verordneten Müßiggangs um die Wirkmacht des Arbeitsfetisch als Ersatzreligion bangten, nahmen alle, die tatsächlich von Lohnarbeit leben müssen, den klassischen Topos der politischen Sonntagsrede plötzlich beim Wort: Was zählt im Leben? „Hauptsache Arbeit! Ganz egal, wie schlecht bezahlt oder sinnstiftend sie ist“ - auf diese Antwort kam niemand. Während der „disposable time“, die der Lockdown bescherte, erlebte stattdessen der alte Traum von der Befreiung durch Roboter und Maschinen eine Renaissance. Auch weil die nicht Gefahr laufen, an Covid 19 zu erkranken. Der des Sozialismus unverdächtige John Maynard Keynes prophezeite für das Jahr 2030 die 15-Stunden-Woche. In Zeiten der Digitalisierung ist das bei vielen Jobs keine Utopie, aber auch noch keine Befreiung. Mit den arg bescheidenen Summen, die bei der Debatte um das Grundeinkommen ins Spiel gebracht werden, wird das nämlich nichts mit dem auskömmlichen Leben für alle. Besser wir klären: Wem gehören die Roboter? Martina Mescher

Illustration: der Freitag
Hallo, Nachbar
Heute Abend gehe ich feiern, zu meinen Nachbarn. Wir feiern, weil Sabine gestern gestorben ist, sie wurde 68, nicht gerade alt, Krebs war es, Lungenkrebs. Erst seit sie krank war und bei Annie lebte, so heißt meine Nachbarin, lernte ich sie richtig kennen. Nun backe ich eine Quiche, denn Annie und ihre Mutter liebten sie, meine Quiche mit Ziegenkäse, Nektarinen und Walnüssen. Ich freue mich darauf, all unsere Nachbarinnen zu sehen und Annies Freunde, die ich erst kenne, seit – seit Corona. Seit wir angefangen haben, uns kennenzulernen. Heute Abend wird es Salate geben und meine Quiche, und wir werden darüber sprechen, wie schön es war, die letzte Zeit mit Sabine, drei Tage feiern wir nun ihren Abschied, wir alle haben frei bekommen dafür. Annie sagte es gestern schon: Was für ein Glück, dass Sabine erst nach Corona gestorben ist, denn vorher wäre sie mit alledem alleine geblieben. Als der Tod nicht dazu gehörte. Nicht geteilt werden durfte. Als er weggesperrt wurde ins Krankenhaus und Pflegeheim. Sabine mochte meine Quiches. Besonders die mit Ziegenkäse, Nektarinen und Walnüssen. Elsa Koester
Neue Solidarität
Spekulieren ist billig, Wünschen erlaubt. Ich wünsche mir, dass die Corona-Krise die Epoche des schrankenlosen Individualismus in den westlichen Gesellschaften beendet, wonach jeder sich selbst der Nächste und für sein Wohl weitgehend selbst verantwortlich ist. Da die nun rasend um die Welt wabernden Corona-Viren jeden erreichen können, liegt die Erkenntnis nahe, dass nicht nur unser Wohl, sondern unser nacktes Leben von der sehr löchrigen Qualität der Gemeinschaftsgüter abhängt. Diese wurden nicht nur durch die heutigen Steuerzahler geschaffen, sondern etliche Generationen vor uns haben daran mitgebaut. Dass wir Gattungswesen sind, ist vielen Menschen mit der Klimakrise und der Flüchtlingskrise wieder bewusst geworden. Überleben wird unsere weit und breit im All einmalige Gattung nicht als loser Verbund von Einzelkämpfern und durch punktuelle Aktionen der Nächstenliebe. Nötig und möglich sind integrative Solidarsysteme. Sie werden uns nicht geschenkt, sie müssen erkämpft werden. Sabine Kebir
Vorfahrt für Radfahrer
Das hätte vor einem Monat kaum jemand für möglich gehalten: Kommunen trennen von ihren Stadtautobahnen temporäre Corona-Radspuren ab. Entschleunigte Großstädte, denen die Sicherheit von Radfahrern nie besonders viele Investitionen wert waren, betreiben Unfallprävention - schließlich braucht man die wertvollen Krankenbetten jetzt dringender für Virenkranke als für getürte Radler. Doch machen wir uns nichts vor: Die vielspurigen Alleen werden nach Corona wieder dem alles überlagernden Autoverkehr gehören. Die Beharrlichkeit der Bequemen dürfte sich durchsetzen. Es sei denn, öffentlicher Druck schafft es, diesen zarten Keim einer viralen Verkehrswende zur Pflanze werden zu lassen. Das kostet vergleichsweise wenig: Fuß- und Radverkehr werden zu Lasten des Autoverkehrs priorisiert – garniert von einem dichten Netz aus ticketfreien Bussen, Trams, Zügen und günstigem stationärem Carsharing. Wer urbane Lebensqualität will, sollte jetzt die vielen regionalen Initiativen unterstützen. Michael Merten
Sozialsystem ohne Gängelei
Dieser Tage erleben zahlreiche Menschen, was es bedeutet, wenn man über Tage und Wochen hinweg weder Cafés noch Kinos besuchen kann. Was es also heißt, kulturell nicht teilhaben zu können. Vielleicht dämmert es uns allen, wie sich zahllose Hartz-IV-Empfänger, Alleinerziehende oder Bezieher von Kleinstrenten fühlen, die permanent auf diesen „Luxus“ verzichten müssen.
Hoffentlich behalten diejenigen, die als Selbständige oder Angestellte ihr Leben lang auf der Erfolgsspur unterwegs waren, die frustrierenden Ämtergänge, die sie nun vielleicht zum ersten Mal erleben, in Erinnerung. Es könnte der Beginn einer neuen Solidarität zwischen Erfolgsverwöhnten und Abgehängten sein. Wäre ein Sozialsystem ohne Gängelei und schnelle, unbürokratische Hilfe für alle nach der Krise denkbar? Durchaus, aber nur, wenn die Mitte auch nach Corona nicht vergisst, dass jeder jederzeit ohne Verschulden in Not geraten kann. Marlen Hobrack
War’s ein Bier oder ein Corona zu viel?
Leider sind die kleinen Bequemlichkeiten weg, der kurze Trip nach Malle oder die Konferenz in Wien. Aber erstaunlich, dass die Großstätte jetzt endlich Radstraßen umsetzen und mit dem Ausbau regenerativer Energien weltweit der Energiemix verändert wird, toll! Das Tempolimit von 120 km/h ist europäisch durchgesetzt, außer in den Niederlanden, da ist weiterhin nur 100 km/h erlaubt. Von Andi Scheuer hat man schon lange nichts gehört, dafür ist ja Winfried Hermann nun im Kabinett. Wenn jetzt dieses Grün-rot-rot noch begreifen würde, dass die Einführung der 5G-Technologie, durch einen demokratischen Prozess mit europäischen Hoheitsrechten, die Lebensgrundlage für Alle, bei geregeltem Grundeinkommen, ermöglichen kann, wow! Nach diesem Tagtraum, würde ich mich freuen, wenn der „Wiederaufbau“ ohne Waffenindustrie funktionierte – Tote hatten wir dieses Jahrhundert eh schon genug. In Frieden ließe sich dann auch besser denken statt träumen! Alexander Kursawe
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