Die Mauer ist jetzt länger weg, als sie gestanden hat. Seitdem sind viele Menschen aus ihrer Heimat weggegangen – in beide Richtungen. Das hat das Land verändert. Im Osten gibt es Städte, deren gesellschaftliches Leben von einigen tausend aus dem Westen zugewanderten Beamten, Journalisten, Pensionären getragen wird. Im Westen leben Ostdeutsche, als hätten sie schon immer dort gelebt.
Und doch gibt es nach 28 Jahren, zwei Monaten und 29 Tagen – so lange ist die Mauer heute weg – trotz aller Durchmischung noch zwei Seiten: Ost und West. Dabei ist es nicht so, dass sich die jeweils „Rübergemachten“ am neuen Ort nicht willkommen fühlten. Mittlerweile erleben viele sogar merkwürdige Irritationen, wenn sie in ihre alte Heimat zurückkehren. „Zehn Jahre hast du dort gelebt? Wie hast du das ausgehalten?“
Und natürlich gibt es Mentalitätsunterschiede zwischen Ost und West, aber eben auch zwischen Nord und Süd. Das hat mit historischen Erfahrungen und kollektivem Gedächtnis mindestens so viel zu tun wie mit der Höhenlage und dem Wetter. Außer diesem vielleicht: Weit verbreitet ist der Typus, der zwei gegensätzliche Dinge gleichzeitig möchte. Der beklagt, dass sich nichts ändert, aber eigentlich nichts ändern will, vor allem nicht sich selbst. Der weniger Steuern zahlen und zugleich eine bessere Infrastruktur möchte. Der weniger Staat spüren, aber mehr Polizei sehen will. Und, obwohl er mehr Sicherheit fordert, politisch eher aufs Ungewisse setzt.
Aber es waren ohnehin nicht die Wanderungsbewegungen von Menschen, die vor allem in den 1990er Jahren vom Aufbruch zur Erstarrung geführt haben. Es war eher der blindwütige Institutionen-Transfer in Staat, Parteien, Gewerkschaften und Wirtschaft, von West nach Ost. Es musste ja alles schnell gehen. Das war ohne Beispiel – und vielleicht auch alternativlos. Zudem haben sich die meisten auch gern eingerichtet in diesen Institutionen: Betriebe schlossen, Abfindungen flossen – also erst mal Kasse machen und sich die Welt angucken.
Spätestens zwei Jahre später war die Qualifikation aus DDR-Zeiten nichts mehr wert und man selbst im alten Modus: So, Staat, nu mache mal – einschließlich der damit unweigerlich verbundenen Enttäuschung. Der unbestritten höhere Kollektivierungsgrad der Ostdeutschen hat schließlich dazu geführt, dass sich diese Enttäuschung auch in Kreisen breitmachte, die von alldem nicht unmittelbar betroffen waren – bei jüngeren „Wende-Gewinnern“, bei den dank Sozialauswahl begünstigten älteren Beschäftigten und bei Rentnern. Entwertung des Bisherigen, Verletzungen, Verirrungen, tatsächliche Verluste.
Dies alles lebt weiter in der Erzählgemeinschaft vom besseren Zusammenhalt, von der Vollbeschäftigung, der Flasche für die Schulkinder, dem kostenlosen Gesundheitssystem, dem Es-war-nicht-alles-schlecht. Nicht nur die DDR lebt so weiter, sondern auch die Zeit, die danach kam. Weil das, was Zeitzeugen auf Wikipedia erinnern, eine historisch fundierte Analyse nicht ersetzen kann. Selbst wenn aus den Sagen und Geschichten der Kern herausgeforscht sein wird, bleibt das Gefühl, das diesen Teil der Welt in Wirklichkeit zusammenhielt: Angst. Angst vorm großen Bruder, Angst vor der Klärung eines Sachverhaltes, Angst vor Unsicherheit.
Angst ist viel stärker als Wissen, Statistiken, Überzeugungen. Angst ist nicht die Mauer im Kopf. Sie ist die Mauer im Herzen.
Kommentare 4
Kann man die Nachwendegeschichte im Osten auch so erzählen, dass sich nur der Anlass der Angst geändert hat; Angst vor dem sozialen Abstieg, vor Überfremdung, vor der totalen Überwachung oder der Fremdbestimmung?
“Angst vorm großen Bruder, Angst vor der Klärung eines Sachverhaltes, Angst vor Unsicherheit.“
Eingans, ich finde mich nicht als Verlierer, auch meine gute DDR Ausbildung hat dazu beigetragen. So bin ich ja auch irgendwie Zeitzeuge beider Systeme und mache mir so meine Gedanken... Ich gehöre sicherlich zu jenen, die einen reformierten Soz. wollten. “Ich bin ein Kind der DDR“, hat er im Sommer 1990 erklärt und gleich hinzugesetzt: „Ich bleibe es auch noch, wenn es sie nicht mehr gibt.“ Knapper lässt sich kaum sagen, was Friedrich Schorlemmer geprägt hat.“ Für mich nicht nur ein schöner Satz! Die Gaucks und neuen Rechthaber dieser Welt sind nicht mein Ding … nur mal so am Rande. ( Die Mauer steht auch bei mir im Kopf, aber ähnlich funktioniert ja ein gutes Immunsystem, einigen Blödsinn sollte das erkennen und etwas dagegen unternehmen ) Ja und die Angst – ist ja wichtig … ein Steuerungsinstrument und Warnimpulsgeber - eine unverzichtbare Grundausstattung im Rahmen der funktionierenden Selbsterhaltung. Und da bedarf es auch heute reichlich … und die Mauer war leider die Trennlinie zweier Blöcke - mit all ihren furchtbaren Auswirkungen, keiner will so ein Scheiß … wird aber heute sehr gerne vergessen …
Und vielleicht ist es gerade unsere Prägung ( OSSI ) oder die Wertevermittlung in der Diktatur oder “Unrechtsstaat“ … das man sich für den Frieden einsetzt, wo “unsere“ amerikanischen Freunde ( neuer großer Bruder ) ... nun kleine lustige Atomwaffen bereitstellen wollen, für Chirurgische Eingriffe … auch fällt den geschulten Mauerossi auf … die immer stärker werdende ( auch von den Medien übrigens ) transportierte Russophobie … und Sachverhalte lassen sich zwar heute anders im Rechtsstaat klären, dass bedarf aber erst mal rechtsschutzversichert zu sein … die heutigen Machthaber haben es nicht so bei der Ursachenforschung, denn da könnten sie sich das einziehen der AfD in den Bundestag auch erklären. “Sie ist die Mauer im Herzen.“ Und da denke ich, da gibt es auch nicht nur schwarz und weiß, die Farbe des Blutes ist immer noch Rot die durch den Hohlmuskel fließt, es sei den man ist vom Planeten Vulkan!
Da ich Ende der 80er Jahre in Westberlin wohnte, kurz nach der Maueröffnung für ein paar Monate im Osten (von Ende Februar bis Ende Juni 1991 in Friedrichshain, Boxhagener Straße 30) und ab 1991 wieder im Westen, beruflich jedoch mit dem Fördergebietsgesetz (so hieß es) und ostdeutschen KollegInnen zu tun hatte:
Bei Besuchen in Ostberlin fiel mir auf, daß die Menschen leiser sprachen, in der S-Bahn still gewesen sind, gerne mit mir in Kontakt getreten wären und im allgemeinen mehr gelesen haben als die Westdeutschen. Einen "Wärmestrom" i.S. Ernst Blochs habe ich nicht verspürt. Günter Gaus, gewiß ein Linker, sprach von der "Nischengesellschaft". Er hatte übrigens ein Buch geschrieben, eine deutsch-deutsche Liebesbeziehung, mit dem Titel "Dorle und Wolf".
Die Monate, in denen ich in Friedrichshain lebte, gefielen mir ganz gut. Was mir allerdings auffiel, daß ich speziell von Männern mittleren Alters, die Sehnsucht nach einem "starken Mann", zu hören bekam.
Innerberliner Konflikte waren vorprogrammiert, weil für die Westberliner die Berlinzulage wegfiel (8% vom brutto steuerfrei) und sie mehrfach höhere Mietkosten hatten. Die Mauer ist tlw. noch heute in den Köpfen.
Im Beruf konnte ich, ohne hier ins Detail zu gehen, mehrere Jahre feststellen, daß es doch eine starke Autoritätsfixiertheit bei den Ostdeutschen gab, erkennbar im Verhalten zu den Chefs und der Verschlossenheit im Alltag.
Es gab viele Verletzungen bei den Ostdeutschen, erstens durch die Treuhandanstalt, die alles platt machte, und in den Umgangsformen zwischen West- und Ostdeutschen. Wie manche Wessis sich gebärdeten, fand ich als peinlich. Es waren die typischen BILD-Zeitungsleser.
Also ist der „Ossi“ ein angstgesteuertes Wesen mit einer Mauer im Herzen?? Was für ein Unsinn.
Hier wird doch wohl Angst mit Risiko verwechselt.
Dann würde ich auch Recht geben: Der „Ossi“ musste sich nach der Wende mehr existenzgefährdenden Risiken stellen als er bislang gewöhnt war.
Diese hat er aber in der übergroßen Mehrheit positiv bewältigt. Und dass wir etwas sensitiver auf unsere Welt schauen kann ich nicht als Fehler begreifen.