Erwin war tot. Einfach umgefallen, Herzinfarkt mit 57. „Morgens beim Sockenanziehen auf dem Bett ist er lautlos nach hinten geklappt“, erzählte seine Frau Susie. Sie hatte abends geklingelt und gefragt, ob der Dude eine Sekunde Zeit hätte. Am Tisch steckte sie sich eine rote Marlboro an und platzte mit belegter Stimme mit den Nachrichten heraus. Der Dude hatte sich schon gewundert, noch nie hatte Susie mit ihm reden wollen. Erwin war der Vermieter, ihm gehörte das Haus, mit ihm hatten sie auch ihre kleine Sondervereinbarung bezüglich des Gartenschuppens getroffen. Sie wussten von Susies Existenz, sie sahen sie ab und zu unten vor der Tür oder im Laden, aber zu mehr als einem höflichen Lächeln war es nie gekommen. Solange Erwin zufrieden war, gab es keinen Anlass zur Sorge. Und der war zufrieden, solange er regelmäßig eine Tüte Gras abholen konnte und ab und zu ein Briefchen Koks zugesteckt bekam.
Der Dude überlegte gerade, ob der Erwin es eventuell mit dem Pulver übertrieben haben könnte, von wegen Herzinfarkt, als Susie unvermittelt in die Stille hinein sagte: „Ich weiß, was ihr im Garten macht. Damit wir keinen Stress kriegen, sage ich es euch deswegen lieber gleich. Ich werde das Haus allein erben. Sobald das formal unter Dach und Fach ist, habt ihr noch genau vier Wochen, um den Schuppen zu räumen. Keine Diskussionen, keine Verzögerungen. Ansonsten klingelt hier die Polizei. Haben wir uns verstanden?“
Der Dude blickte sie erstaunt an. Die Härte in ihrer Stimme überraschte ihn. Der Dude wurde regelrecht sauer auf Erwin. Was hatte der sich auch so gehen lassen müssen? Ein bisschen mehr Sport, ein bisschen bessere Ernährung, ein bisschen mehr Selbstbeherrschung, und alles hätte in Ruhe so weitergehen können wie bisher. Beim Sockenanziehen. Ein Trauerspiel.
Das neue Haus
Der Dude wusste nicht genau, wie lange eine Testamentseröffnung dauern würde, aber er würde dringend die Suche nach einem Standort vor den Toren Hamburgs intensivieren müssen – ohne dass der Bruder das mitbekam. Dem wollte er beim nächsten Besuch alles erklären. Sie vereinbarten ein Treffen für Anfang kommender Woche.
Sie fuhren langsam über den Hof des Ruderclubs und blieben an der kleinen Brücke stehen, die zu dem eigentlichen Gelände führte. Es sah alles genau aus, wie im Internet beschrieben, sogar noch besser. Erster Eindruck: perfekt. Das riesige, frei stehende Haus direkt am breiten, träge dahinfließenden Fluss, der irgendwo in der Elbe endete, eine Halle, die mindestens 50 mal 30 Meter Grundfläche haben musste, umgeben von mehreren tausend Quadratmetern wilder Wiese samt Teich. Das alles direkt an einem pittoresken Dorf hinter dem Deich, getrennt von allem und allen – sie standen möglicherweise vor ihrem Paradies.
„Das müssen wir haben“, sagte der Dude und ging euphorisch Richtung Haus, vor dem ein älterer Herr in edlem Casual Chic wartete. Die anderen folgten. Der Kleine schnalzte mit der Zunge, Eight Fingers rieb sich die Hände.
Herr Breitling war ein distinguierter Herr Ende fünfzig, volles graues Haar, marineblauer Blazer, Armani-Jeans, Budapester, Typus hanseatischer Unternehmer, der wohl in Bremen ein Bauunternehmen besaß, wie er sogleich erzählte, und der dieses Anwesen vor ein paar Jahren geerbt hatte. Er begrüßte jeden mit kräftigem Handschlag und führte sie über das Anwesen. Er zeigte ihnen das geräumige Landhaus mit der bodentiefen Glasfront zur Wasserseite, die durch Bäume geschützte Terrasse direkt am Ufer, drinnen 300 Quadratmeter luxuriöse Behaglichkeit. Er verwies auf die moderne Designerküche, mehrere Schlafzimmer in der ersten Etage und im ausgebauten Dachgeschoss sowie einen perfekt ausgebauten Fitness- und Saunakeller, den der Dude schon während der Besichtigung zischelnd zum „Orgien-Keller“ erklärte. Ihre Story war einleuchtend. Der Dude war ein erfolgreicher Kreativer, der einen ruhigen Ort für seine Schaffensphasen jenseits der hektischen Stadt und des heimischen Kinderlärms suchte, Eight Fingers war ein passionierter Fotograf, der intensive Naturstudien betrieb und das Wasser liebte. Beide zusammen suchten ein Haus und genügend Lagerraum für diverse Studioutensilien und ihre diversen Schiffe, die sie als passionierte Wasserratten im Laufe der Jahre erworben hätten.
Der Dude hatte im Internet ein halbes Dutzend geeignet erscheinende Objekte bei ImmoScout ausfindig gemacht, alle rund 45 Minuten von Hamburg entfernt, die sie nacheinander abfuhren. Die Kriterien waren: genügend große Halle plus Haus, idealerweise in Wassernähe und in einiger Entfernung von den nächsten Wohnhäusern. Am vergangenen Wochenende hatten sie sich drei Nieten angeschaut, das Objekt vor ihrer Nase war das erste am heutigen Tag. Der Dude schaute seine Begleiter an und musste schwer an sich halten, um Herrn Breitling vor Freude nicht zu umarmen und zu küssen. Mitten in der durch Oberlichter genügend hellen großen Halle mit Wellblechdach stand ein zweigeschossiger Einbau von etwa 20 mal 20 Metern Grundfläche, eine von außen nicht sichtbare und selbst von hier drinnen nicht einsehbare Halle in der Halle mit einem funktionierenden Starkstromanschluss. Die Computerfirma hatte sich nicht lumpen lassen und ein solides Bauwerk errichtet, das nur noch isoliert und eingerichtet werden müsste, wie der Dude sofort kalkulierte, um in weniger als zwei Wochen einsatzbereit zu sein. Decke verstärken, Dämmfolie einziehen, Fenster wegmachen, Ventilatoren einbauen, fertig. Er sah die Aufteilung genau vor sich: unten ein Wachstums- und ein Blüteraum, dazu Zimmer für die eine oder andere Mutterpflanze, oben die Stecklinge, ein Trockenraum sowie ein weiterer Anbauraum, der ihnen erlauben würde, die Erntelast ein wenig zu verteilen, was bei den zu erwartenden Mengen eine große Erleichterung sein sollte. Und er hätte noch genug Platz für eine kleine Geheimkammer am Treppenaufgang, in der er allein experimentieren könnte, wie er schon länger vorhatte. Er sah Platz für 1.000 bis 2.000 Pflanzen – und noch mehr Raum für ein entspanntes Leben und eine sehr unbeschwerte Zukunft für alle.
Herr Breitling wollte für Haus und Halle zusammen 3.500 Euro im Monat, das wären mit Nebenkosten gut 5.000 Euro oder eineinhalb Kilogramm, überschlug der Dude im Kopf und sagte sofort zu. Er zahlte die geforderte Kaution bar vor Ort und freute sich, dass Herr Breitling nicht einmal mit der Wimper zuckte ob der Entscheidungsfreude und Finanzkraft der bis eben noch gänzlich unbekannten Neumieter. Der Mann vom Bau ist schlau, dachte der Dude, der kennt sich aus mit Schwarzgeld & Co. Herr Breitling gab ihnen die Schlüssel und empfahl sich.
Bevor sie wieder in ihren Kombi stiegen, drehten sie sich noch einmal um. Malerisch sah ihr Anwesen im güldenen Abendlicht aus. Das war ihr neues Zuhause, fern der gierigen Abdullahs und des bekloppten Bruders. Das war ihr Headquarter zur Eroberung der unendlichen Weiten der gierigen Märkte, das würde ab dem Geschäftsjahr 2005 der neue Sitz ihrer Cannabis GmbH sein.
Susie schob ihm am Abend vor seinem Treffen mit dem Bruder einen Brief unter der Haustür durch. Leider kleine Beschleunigung des Verfahrens: restlose Räumung und besenreine Übergabe am Morgen des 15. Oktober, 9 Uhr. Sollten sie diese Vorgaben nicht erfüllen, sähe sie sich leider, wie bereits angekündigt, gezwungen, weitere Schritte einzuleiten. Mit freundlichen Grüßen. Gott, war die Alte unlocker. Der arme Erwin. Der Dude wollte nie wieder schlecht oder spöttisch über ihren toleranten ehemaligen Vermieter denken.
Michael sah aus wie immer in letzter Zeit. Die dünnen, strähnigen Haare hingen ihm glänzend ins schweißnass schimmernde Gesicht. Seine Augenringe changierten ins Lila-Schwarze, die Nasolabial-Linien waren schwarze Furchen, die Wasserablagerungen oberhalb der Wangen nahmen Horst-Tappert-Dimensionen an, er roch nach altem Schweiß, wie der Dude bei ihrer flüchtigen Begrüßungsumarmung an der Wohnungstür merkte, seine Fingerkuppen, zwischen denen eine Lucky Strike klemmte, waren dunkelgelb.
Der Dude erklärte ihm die Lage: Erwin tot. Das Haus gehört Susie. Wir müssen so schnell wie möglich raus. Offiziell wegen Eigenbedarf. Wenn wir Schwierigkeiten machen, lässt sie uns auffliegen. „Ich gehe nicht raus, niemals!“ Michael verschränkte die Arme und lehnte sich am großen Holztisch trotzig zurück. Der Dude bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er betonte die absolute Endgültigkeit der Ansage und die Ausweglosigkeit ihrer Lage, er plädierte für einen geordneten Rückzug, für den drei Wochen Zeit blieben. Sie beide würden sich auf Ernteverluste einstellen müssen, aber die Alternative sei: Polizei und Knast.
Der alte Schuppen
Schon bei den letzten Worten des kleinen Bruders hatte sich Michael leicht nach vorne gebeugt und seine Lucky mit dem Daumen praktisch im Aschenbecher zermalmt, immer weiter drückte er auf dem bereits völlig zerquetschten Filter herum, als wollte er ihn durch das Glas pressen. „Ich werde den Schuppen niemals räumen, verstehst du das? Niemals! Was glaubt ihr denn, wer ihr seid, dass ihr mich einfach vor die Tür setzen wollt? Habt ihr den Verstand verloren? Sag dieser alten Schlampe, ich werde keinen Millimeter weichen!“
„Michael, jetzt beruhige dich doch, dreh nicht durch. Was soll das denn? Ihr gehört das Haus bald, sie kann damit machen, was sie will. Sie allein entscheidet. Und wie ich gesagt habe, sie schmeißt uns beide raus, verstehst du, wir müssen da raus. Sonst gibt es richtig Ärger.“
„Genau, das kannst du ihr gern sagen, das wird allerdings richtigen Ärger geben. Wenn sie will, kann sie ja gern die Polizei holen und mich räumen lassen. Werden wir ja mal sehen, ob man in diesem Land alles mit einem machen kann. Ich habe einen ordentlichen Mietvertrag. Ohne Polizei kriegt die mich da nicht raus!“ Michaels Augen waren kleine blutunterlaufene Schlitze, ein, zwei unschöne Speichelfäden pendelten aus den verkrusteten Mundwinkeln langsam zur Tischoberfläche. Der Dude schaute ihn entgeistert an. Das war also sein Bruder. Oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war. So wie er da saß und aussah, könnte man ihn gegen Gebühr für jede beliebige Drogen-Aufklärungskampagne vermieten, so eindrucksvoll war sein körperlicher, sozialer und geistiger Zerfall. Seht her, junge Menschen dieser Erde, das macht der Alkohol aus euch, ja, Kinder, so endet ihr mit Kokain, und aufgepasst, so dumpf kann man sich rauchen, wenn man es jahrelang übertreibt.
„DU willst die Polizei holen? Mit einer Hanfplantage im Garten, so groß wie eine Sonderabteilung bei Planten un Blomen? Tickst du nicht mehr richtig?“ Die letzte Frage war überflüssig. Sein Bruder tickte ganz offensichtlich nicht mehr richtig. Der meinte das mit der Polizei todernst und verstand nicht, was daran seltsam sein sollte. „Ich lasse mein Leben nicht von so einer kleinen miesen Erbschmarotzerin durcheinanderbringen, verstehst du das nicht, du Kollaborateur?“
Michael stemmte sich auf beiden Fäusten auf dem Tisch nach vorne und ließ den Dude bis tief in den Rachen schauen. Das hatte der Dude dem Bruderkörper gar nicht mehr zugetraut, so ein Engagement, das war tatsächlich überraschend, was der noch für Reserven mobilisieren konnte, den sollte man nicht unterschätzen, den Bruder, so viel war klar.
„Du kannst deinen Frieden mit diesem Schweinesystem ja gern machen, was anderes hätte ich von dir gar nicht erwartet, alter Feigling, so warst du ja schon immer, alter Stiefvater-Liebling, aber ich werde nicht weichen, keinen Millimeter. Wir haben einen ordentlichen Vertrag für den Schuppen, und wenn die Alte echt Ärger macht, dann rufe ICH die Bullen.“
Nur mit größter Mühe überhörte der Dude die Stiefvater-Anspielung. „Michael, wir haben keinen Vertrag für den Schuppen, kapier das doch endlich. Das ist alles total illegal, ohne Erwin sind wir tot.“
Auszug aus: Rainer Schmidt Die Cannabis GmbH Rogner & Bernhard 2014, 300 S., 22,95 €.
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