Alles über Gerechtigkeitstheoretiker: Von Paulus über Derrida bis Nancy Fraser
A-Z Vor 150 Jahren starb der liberale Denker John Stuart Mill, aber was hat seine Idee von Gerechtigkeit mit Christian Lindner zu tun? Was eint christliche und kommunistische Ziele? Und funktioniert Feminismus ohne Umverteilung? Unser Lexikon
Abbildung: John Stuart Mill gezeichnet von Lesley Ward; Hulton Archive/Getty Images
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Apostel Paulus In seinen Anfängen hat Paulus die Lehre vom Jüngsten Gericht tradiert, wo die Guten belohnt, die Bösen bestraft werden. Später indes versetzt er dieses Gericht ins laufende Leben. Eine böse Tat trägt ihre Strafe in sich selbst, und vor allem: Da das Leben dann noch nicht vorbei ist, besteht die Chance, dass der oder die Böse sich noch ändert. Diese Idee führt dazu, unter Gerechtigkeit den Vorgang zu verstehen, andere, die es nicht sind (niemand ist es, auch man selbst nicht), gerecht zu „machen“. Wenn das in bestimmten Fällen gelingt, soll der Person, die schuldig geworden war, verziehen werden. Das hätte die Lehre der Kirche sein müssen (➝ Cardenal, Ernesto). Stattdessen hat sie immerzu Kriege g
ardenal, Ernesto). Stattdessen hat sie immerzu Kriege gesegnet. Kriegführen ist das offenkundige Gegenteil des Versuchs, sich wechselseitig gerecht zu machen. Vom Krieg aber ist die Menschheit geprägt, die der Kirche „sündig“ begegnet. CCardenal, Ernesto Dichter und Revolutionär, Priester und Politiker, Marxist und Mystiker: Weißhaarig, mit schwarzer Baskenmütze, ein kleiner Mann aus Nicaragua, war er für Deutsche in Ost und West ein ganz Großer – durch seine Lyrik und seinen Traum von einer besseren Welt. Ein Beseelter (1980 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels), der zum Aufrührer wurde, weil er sich mit Unterdrückung und Armut nicht abfinden konnte. So wie Jesus als „der Gerechte“ gilt, war ihm das Evangelium (➝ Apostel Paulus) Verpflichtung, für die Benachteiligten einzutreten. Legendär wurde die urchristliche, urkommunistische Kommune, die er auf dem Solentiname-Archipel im Großen See von Nicaragua gründete, wo auch Das Evangelium der Bauern von Solentiname (1980) entstand. „Eine hierarchische Kirche steht auf der Seite der Reichen“ – mit der Überzeugung brachte Ernesto Cardenal Papst Johannes Paul II. gegen sich auf. Der entzog ihm die Priesterwürde. Franziskus hat sie ihm 2019 wiedergegeben.DDerrida, Jacques 1977 gründete der Kunststudent Green Gartside gemeinsam mit seinem Kommilitonen Tom Morley in Leeds die Band Scritti Politti. 1982 erschien das erste Album Songs To Remember und ihr eleganter Zitat-Pop wurde zum Sound der Zeit. Zitate waren ohnehin angesagt damals: Schon der Name der Band zitiert eine Schrift Antonio Gramscis, was man alles genauer nachlesen kann in Simon Reynolds’ Postpunk-Buch Schmeiß alles hin und fang neu an: Postpunk 1978 – 1984. Und so wie Gramsci liebten Scritti Politti auch Jacques Derrida, dem sie auf ihrem Debüt mit Jacques Derrida eine Hommage widmeten. Gartside verehrte den französischen Philosophen und sein in dem Buch Gesetzeskraft (Suhrkamp, 1991) dargelegtes Denken über Gerechtigkeit, in dem Derrida die Frage stellt, wie sich Recht begründet, wie es funktioniert, und dem „mystischen Grund der Autorität“ auf der Spur ist. Derrida geht auf das Verhältnis von Dekonstruktivismus zu Recht und Gerechtigkeit ein. Können die Dekonstruktivisten diesen Begriffen überhaupt gerecht werden? Gartside traf Derrida persönlich und dichtete die Zeilen „I’m in love with a Jacques Derrida. Read a page and know what I need to …“ Derrida lieben heißt für ihn, postmodern lieben.FFraser, Nancy Sie ist die bekannteste Kritikerin des Postfeminismus, jener Positionen der zweiten Frauenbewegung die sich vom Kapitalismus haben „kaufen“ lassen durch die irrige Vorstellung, frau könne in Führungsetagen oder auf der politischen Bühne das Ruder zugunsten der Frauen drehen und ihnen dadurch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Diese „gefährliche Liebschaft“ jedoch negiere, so die 1947 geborene Philosophin Nancy Fraser, selbst Teil der linken Bewegung, dass dies nur auf Kosten derer zu haben sei, die in der neuen Dienstbotengesellschaft die unbezahlte oder schlecht bezahlte Arbeit verrichten, insbesondere Frauen aus der globalen Peripherie. Sie plädiert für ein feministisches Konzept, in dem ökonomische Umverteilung, symbolische Anerkennung und Repräsentanz wieder zusammengedacht werden.HHayek, Friedrich August von „Nicht das Ergebnis“ einer Transaktion war für Hayek gerecht oder ungerecht, „sondern die Art und Weise, in der der Wettbewerb durchgeführt wird.“ Für ihn drückte sich Gerechtigkeit in dem „Prinzip, alle nach denselben Regeln zu behandeln“, aus. Das klappt am besten wo? In der freien Marktwirtschaft! Menschen seien ungleich: Dafür könne man nur ^^„einen persönlichen Schöpfer tadeln“. Soziale Gerechtigkeit sei eine „Illusion“, nur ein „Minimum an Nahrung, Obdach und Kleidung“ gönnte er jedem Bürger. LLord Dahrendorf Nur ein Hauch ’68, als ich am OSI studierte. Elmar Altvater lehrte noch das Kapital, Gesine Schwan Hegel und Marx, Peter Grottian ging auf Demos. Das Institut war auf dem Weg nach Bologna, ich saß im Seminar über soziale Gerechtigkeit. Rousseau, der Zaun, das Privateigentum (➝ Mill), teuflisch. Dann lasen wir Ralf Dahrendorf. Der Deutsch-Brite hatte mit Dutschke auf dem Autodach diskutiert, war von der Queen zum Lord geschlagen. Er sah „Bildung als Bürgerrecht“ und ohne Solidarität keine Freiheit. Echt, ein Liberaler? Dahrendorfs Reflexionen über Freiheit und Gleichheit (1965) verbanden libertäre und egalitäre Gerechtigkeitsphilosophie (➝ Rawls). Sie wurden Thema meines Vordiploms, Marx hatten ja die anderen.MMill, John Stuart Am 8. Mai vor 150 Jahren starb der einflussreichste liberale Denker John Stuart Mill (*1806). Allerdings vertrat der Philosoph und Politiker keine Schrumpfform des Liberalismus, wie sie heutzutage verbreitet ist. Und über einen infantilen Freiheitsbegriff wie den der FDP hätte der Engländer nur den Kopf geschüttelt. Das Individuum sollte ihm zufolge, der die Denkrichtung des Utilitarismus maßgebend prägte, die Freiheit zur Entwicklung haben. Und auf dem Weg zu einer gleichberechtigten Gesellschaft bedarf es für ihn eines verantwortlichen Staates, der dafür aktiv einen Rahmen schafft. Gerecht sei, dass jeder bekommt, was er verdient. Maßstab der Gerechtigkeit ist die Nützlichkeit, die im Prinzip des größten Glücks verwirklicht sei: „Unter Glück ist dabei Lust und das Freisein von Unlust, unter Unglück das Fehlen von Lust verstanden.“ Allerdings sah Mill in der ungleichen Verteilung des Wohlstands ein Gerechtigkeitsproblem, auch wenn er das Privateigentum verteidigte (➝ Hayek).NNussbaum, Martha Da war doch was? Na klar! Im Keller müssten die Aufzeichnungen noch sein. Tatsächlich: Irgendwo zwischen stillgelegtem Herd und Fahrradskelett steht der Karton mit der Aufschrift „Ordner Uni alt“. Und da liegen sie, fein säuberlich abgeheftet seit dem Wintersemester 2014/15. Obenauf: ein Handout zu Martha C. Nussbaum – Menschenrechtliche Fundierung der Gerechtigkeit. Als Erstsemester habe ich offenbar darauf verzichtet, Namen und Daten zu verzeichnen, aber ich bin mir sicher: Dieses Referat habe ich gehalten, gemeinsam mit – wem noch mal? Und was steht da? Fähigkeitenansatz, aha. Die Idee ist: Um menschlich zu leben, müssen Menschen zu zehn Grundfähigkeiten, nun ja, befähigt werden. Dazu zählen, klar, Leben und Gesundheit, aber auch Gefühle (➝ Derrida), Zugehörigkeit und – etwas kryptisch – „Andere Spezies“. Ob ich das damals erklären konnte? Als braver Student habe ich freilich auch Kritik gegen Nussbaums „aristotelischen Sozialdemokratismus“ vorgebracht: Ihre Liste gefährde den Pluralismus. Aha.RRawls, John Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einem runden Tisch und entscheiden gemeinsam mit anderen über die Zukunft der Gesellschaft: Welche Rechte haben die Menschen? Wie soll Reichtum verteilt, wie Arbeit organisiert werden? Das Besondere an dieser Situation: Die Entscheider:innen kennen weder ihre eigene Stellung in der Gesellschaft, noch wissen sie, wie schlau oder stark oder schön sie künftig sein werden. Mit diesem „Schleier des Nichtwissens“ würden die Menschen auf rationale Weise und frei von Eigeninteresse eine gerechte Gesellschaft begründen – das glaubte zumindest John Rawls. Der liberale Harvard-Professor gilt als einer der wirkungsmächtigsten Denker des 20. Jahrhunderts. Sein Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit von 1971 ist Pflichtlektüre in Politischer Philosophie. Rawls hatte auch eine Vorstellung davon, welche Gerechtigkeitsprinzipien die Menschen wählten: So würden sie sich unter anderem für größtmögliche Freiheitsrechte entscheiden – und Chancenungleichheit nur hinnehmen, wenn diese „die Chancen der Benachteiligten“ (➝ Lord Dahrendorf) verbessert. Bloß: Würden sie sich wirklich dafür entscheiden? Und können Menschen überhaupt aus ihrer Haut schlüpfen, um „fair“ zu entscheiden? Würde sich also die Mehrheit der Männer wirklich für Frauenrechte starkmachen – oder könnten Weiße die von Rassismus Betroffenen tatsächlich mitdenken? So originell Rawls’ Idee auch sein mag, so berechtigt scheint die Kritik daran. WWalzer, Michael Mit Sphären der Gerechtigkeit legte Michael Walzer (*1935) eine eigene Gerechtigkeitskonzeption vor. Seine Entgegnung auf ➝ Rawls erschien 1983 und wird allgemein dem Kommunitarismus zugeordnet. Während dieser Gerechtigkeit auf individueller Vernunft und allgemeiner Zustimmung begründete, setzen Walzer & Co. die Gemeinschaft als grundlegend voraus. Erst auf Basis der konkreten Wertvorstellungen dieser Gemeinschaft lässt sich Gerechtigkeit bestimmen. Walzer definiert verschiedene soziale Sphären, in denen jeweils andere gerechte Prinzipien gelten. Das sind unter anderem Wohlfahrt, Sicherheit und Bildung. Daraus bastelt Walzer ein komplexes Konstrukt von Gleichheit, in dem es auch um die Eindämmung politischer Macht geht: Sie „schützt uns vor der Tyrannei … und wird darüber hinaus selbst tyrannisch“. Dieser kulturspezifische und lebensweltliche Ansatz hat Walzer den Vorwurf eingebracht, Relativismus zu predigen. Er habe einen konkreten Ansatz geliefert, erwiderte Walzer.ZZarathustra Die Guten, schreibt Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra, „sind immer der Anfang vom Ende“, denn sie „können nicht schaffen“. Nur der Schaffende, der „des Menschen Ziel schafft“ und „der Erde ihren Sinn gibt“, könne wissen, was gut und böse sei; der Begriff von Gerechtigkeit, will das sagen, ändere sich mit der menschheitlichen Zielsetzung. Nietzsche geht davon aus, dass die kirchlichen Ziele nicht mehr überzeugen, andere noch nicht gefunden seien und man daher im Nihilismus lebe. Er will der neue Moses sein und auf seinen „neuen Tafeln“ steht, dass der Mensch überwunden werden müsse. Wegen dieses Ziels empfiehlt er, „hart“ zu sein: „Schone deinen Nächsten nicht!“