Alltag mit und ohne Stasi

DDR-Geschichte Eine leicht veränderte Sicht und sofort der Streit

Auch im künftigen Geschichtsbild soll die DDR ohne Abstriche ein Unrechtsregime bleiben, grundsätzlich und von Anfang an. An dieser gesellschaftlichen Übereinkunft will die Kommission aus Historikern und Bürgerrechtlern, die jetzt nach einem Jahr ihr Konzept mit Namen "Aufarbeitung der SED-Diktatur" vorgelegt hat, nichts ändern. Eingesetzt noch unter Rot-Grün empfiehlt sie, die Aufklärung wissenschaftlich besser zu untermauern. Dafür schlägt sie ein großes "Forum Aufarbeitung" im Zentrum Berlins vor. Die zahlreichen Gedenkstätten, Archive und Dokumentationszentren sollen sich mehr vernetzen, sie werden in dem 20-seitigen Papier gebührend gelobt. Dennoch kommt von dieser Seite ein schrilles Echo. Das Signal hat Freya Klier, selbst Mitglied der Kommission, mit ihrem einsamen Gegenvotum gegeben. Vorentwürfe des Papiers wurden den gewogenen Medien zugespielt, und noch bevor das Arbeitsergebnis an Kulturstaatsminister Bernd Neumann übergeben und damit offiziell öffentlich wurde, begannen die Attacken. Neumann wiederum schien schon unter dem Eindruck der Ablehnungsfront zu stehen, die ihm vielleicht wie gerufen kam, als er betonte, die Empfehlungen seien wirklich nur unverbindliche Denkanstöße. Die Politik müsse und werde im Herbst entscheiden.

Die umstrittene Formel gilt dem Alltag der DDR-Bürger, der intensiver betrachtet werden soll, anstelle der "deutlich übergewichtigen Konzentration auf Orte der Repression und der Teilung". Die Staatssicherheit dürfe nicht "zum eigentlichen Nukleus der SED-Herrschaft stilisiert" werden. Die Stasi-Geschichte geht allerdings auch real einem gewissen Ende entgegen: für die Mitarbeit im Geheimdienst wie auch in höheren SED-Instanzen gilt Verjährungsfrist. "Regelanfragen" bei Anstellung im öffentlichen Dienst fallen bald weg, mit Skandalen ist kaum noch zu rechnen. Die Stasi-Unterlagen verändern ihren Charakter, über kurz oder lang sollen sie an das Bundesarchiv gehen.

Interessant ist der Begriff der "Bindungskräfte". Mit ihm soll erkundet werden, was "zumindest in den sechziger und siebziger Jahren zur relativen Stabilität" der DDR geführt habe. Ideologische Überzeugung, soziale Aufstiegsmöglichkeiten, wirtschaftliche Grundsicherung, missmutige Loyalität werden aufgezählt. So wird in diesem Papier auch Überzeugung als eine mögliche Lebenshaltung in der DDR zugestanden, und das kann ja nur die Vorstellung von einer sozialistischen Gesellschaft bedeuten, die man schaffen wollte. Die Überzeugung wird allerdings mit dem Zusatz "ideologisch" gleich entwertet, mit Gehirnwäsche assoziiert.

Markiert das vorgestellte Konzept einen Paradigmenwechsel? Die Kommission wollte ihn, strich aber das provozierende Wort zum Schluss. "Allmählicher Akzentwechsel" blieb. Es blieb auch die kritische Feststellung, dass in Westdeutschland diese Geschichte kaum als Teil der ganzen deutschen Entwicklung begriffen wurde. "Verinselung" drohe, heißt es im Kommissionspapier.

Das Volk im Osten sah seine Geheimdienstakten. Viele sahen dabei in Abgründe, aber alles, was sich darüber denken und erkennen ließ, musste in einem festgelegten Bild der DDR eingekapselt bleiben. Sonst gabs keine Absolution. Und es blieb kein Raum für die Frage nach Geheimdiensten im Westen, keine Übertragung von Erkenntnissen, keine Schule der Zivilcourage und Solidarität. Desinteresse wird allseitig beklagt, aber ist es nicht klar, dass so ein Lernen mit vordefinierten Grenzen lahm macht?

Freya Klier sieht die Gespenster eines "kontinuierlichen Weiterwirkens ehemaliger Nomenklaturkader". Überall seien sie zu finden, in Schulen, Medien, Bundestag, sie "haben ihre Netzwerke strategisch verfeinert". Der Mehrheit der Kommissionsmitglieder wirft sie eine Neigung zum "Historisieren" vor und setzt sie mit "Abwickeln" gleich. Vor allem unterstellt sie eine Gefahr für den "sinnlichen Nachvollzug" der Repression in der DDR, der sei aber "fast der einzige Einstieg für junge Leute". Derartige Einstiege können dann auch so aussehen wie in dem ehemaligen Stasigefängnis Hohenschönhausen, wo ein sowjetischer Folterstuhl nachgebaut wurde, von dem nicht bekannt ist, ob es ihn je gab, geschweige denn, ob er in Gebrauch kam. Hauptsache, der Grusel meldet sich.


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