Alphabet

Träumer In Dornbirn feierte man zum achten Mal die internationale Poesie

In der Begrüßungsrede verknüpfte Franz-Paul Hammling sein Plädoyer, die Mehrdeutigkeit von Gedichten zu bewahren und auszuhalten, mit einer Erinnerung an Susan Sontags Against Interpretation. Aber Interpretation muss nicht Reduktion auf Eindeutigkeit sein. Sie muss das kunstvoll Verdichtete nicht geschwätzig aufblasen zu ausufernder Redundanz. Sie kann auch die Mehrdeutigkeit bewusst machen und sich als hilfreich erweisen beim Verständnis von Strukturen, die sich gerade nicht ohne Rest auflösen lassen in Sätze der Alltagslogik.

Bereits zum achten Mal fand in Dornbirn das Festival "Poesie International" statt, und einmal mehr wurde nicht nur die Mehrdeutigkeit von Poesie, sondern zumal die Vielfalt ihrer Möglichkeiten eindrucksvoll demonstriert. Hammling verzichtet bei seiner Auswahl auf ein Motto, und das ist gut so, denn es eröffnet ihm die Chance, sehr unterschiedliche Temperamente, Sprechweisen und lyrische Auffassungen miteinander zu kontrastieren.

Dabei, das weiß jeder Veranstalter, wird vom Publikum besonders honoriert, was zum Lachen reizt. Es fällt jedoch auf: Auch beim Vortrag komischer Verse - man erinnere sich an die Lesungen Ernst Jandls - bleibt meist ein Quantum priesterlicher Ernsthaftigkeit aufgehoben, der Gestus einer Offenbarung, die auf der Bedeutsamkeit dessen besteht, was sie verschweigt. Der Typus Jewtuschenko/Ginsberg/Brinkmann scheint ausgestorben. Es herrscht der Typus des bleichen Sensiblen vor, des hermaphroditischen Träumers, der hoch über den irdischen Banalitäten schwebt. Zornige Dichter waren in Dornbirn nicht zu entdecken. Gibt es keinen Anlass mehr für Zorn? Muss, wie manche tonangebende Vermittler meinen, mit dem Dreschen leerer Phrasen auch die literarische Artikulation von Kritik, der Entwurf von Utopien verabschiedet werden? Entspricht es wirklich dem Stand der Dinge, dass das zweite "und" im Titel von Erich Frieds berühmtem Gedichtband und Vietnam und voreilig war oder jedenfalls die Dichter nichts mehr angeht, nicht zu einer Ergänzung einlädt?

Schwerpunkte bildeten in diesem Jahr drei Dichter aus Ungarn, Autoren des in mehrfacher Hinsicht jungen Verlags kookbooks sowie Mitarbeiter der in Belgien erscheinenden deutschsprachigen Zeitschrift Krautgarten. Eindrucksvoll: der große Atem der epischen Lyrik von Nico Helminger aus Luxemburg. Und wieder überraschte ein Ire, Matthew Sweeney, durch die Abstrusität seiner Sujets, durch die Plastizität seiner Bilder, durch Klang und Rhythmus der Sprache.

Erkennbar ist, blickt man über den eingeweihten Kreis im Dornbirner Spielboden hinaus, allerdings auch, dass die Verweigerung von Sinn nach wie vor eine Provokation bedeutet. Es ist nicht einsichtig, warum das immer neue Sprachspiel (nach selbstdefinierten Regeln), das diesmal exemplarisch Urs Allemann, der zu Recht allseits bewunderte Oskar Pastior und, aus der jüngeren Generation, Michael Lentz virtuos zelebrierten, für neue Varianten weniger fruchtbar sein sollte als hermetische Tiefsinnssuggestion oder prätentiöses Geraune. Die Traditionslinie, die vom barocken Manierismus zur Avantgarde führt, ist nicht notwendig stärker "veraltet" oder "verbraucht" als jene, die von Hölderlin zu Celan bugsiert.

Wie viel Dichtung mit Musik zu tun hat, wie ungerecht die einseitige Bevorzugung der semantischen Dimension von Sprache ist, bewies einer der Höhepunkte des Festivals, der gemeinsame Auftritt von Yoko Tawada mit der renommierten Pianistin Aki Takase. Als Beispiel für die faszinierende Symbiose von Sprach- und Sprechspiel mit Klavierexplosionen, die Zitate, vorwiegend aus dem Jazz, abbrechen, ehe man ihrem Sog verfällt, sei ein Ragtime genannt, zu dem Yoko Tawada einfach das Alphabet aufsagte. Nicht mehr? Mehr als genug.

Lyrik: ein Minderheitenprogramm. Damit füllt man keine Stadien. Damit wird kein Verlag reich. Ein Jahr Literatur ist den öffentlichen Kassen weitaus weniger wert als sechs WM-Spiele in Jahrzehnten. Und doch, das wird in Dornbirn deutlich, ist auch die Lyrik im Literaturbetrieb angekommen. In den biographischen Angaben wiederholen sich die Stichwörter: Preise, Stadtschreiberstellen, DAAD-Stipendien, Anthologien fremdsprachiger Autoren in deutschen und österreichischen Verlagen. Bedenklich? Keineswegs. Ökonomische Not produziert keine besseren Poeten. Und was die Gefahr der Vereinnahmung angeht: wer wollte behaupten, dass jene, die keine Preise und Stipendien benötigen, durch Unabhängigkeit und Zivilcourage auffielen?


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