Als Demotouristin in Berlin

1. Mai Unsere Autorin kannte die Demos und Krawallen bislang nur aus den Medien. Nun ist sie in die Hauptstadt gefahren und trifft Polizei, Autonome - und ganz normale Menschen

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Als Demotouristin in Berlin

Foto: Sean Gallup/ AFP/ Getty Images

Boah, ich bin so tot, schnaufe ich und falle auf mein Bett. Die Füße schmerzen, der Schreibblock ist voll, der Speicherplatz meiner Kamera belegt. Das war es also. Mein erster 1. Mai in Berlin. Alles neu macht der Mai. Passt irgendwie, wird doch noch schnell alles kaputt gemacht: Kapitalismus, Gentrifizierung, Nazis, Autos, Scheiben. Der Mai wird‘s dann schon wieder richten.

Ist der 1. Mai tatsächlich nur Krawallvolksfest, bevölkert von Partydemonstranten, Schaulustigen und vermummten Autonomen? Die letzten Jahre habe ich die Ereignisse nur über die Medien verfolgt. Wo hat‘s gebrannt, wo wurde was kaputt gemacht? Am Ende blieb immer nur die nackte Bilanz hängen. Letztes Jahr in Berlin zum Beispiel. Da waren es rund 82 Anklagen wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Landfriedensbruch und Körperverletzung.

Die ersten Deutschland-Fahnen

Wie sieht es aus, wenn man live dabei ist? Als Demotouristin begebe ich mich in die Hauptstadt. Als mein Vater mich am Vorabend zum Kölner Bahnhof bringt, warnt er mich: „Halte dich von den Brandherden, den Krawallen fern.“ Er erzählt mir eine Anekdote: 1963, also vor genau 50 Jahren, war er in Berlin auf einer DGB-Demo. Mein Vater erinnert sich an berittene Polizeistaffeln, die mit Schlagstöcken auf Demonstranten einschlugen. Und er mittendrin. Bei dem Gedanken wird mir mulmig. In so eine Situation möchte ich nicht geraten. Aber berichten, wo und von wem Gewalt ausgeht, das möchte ich schon.

Los geht es für mich in Oberschönweide. Hier will die NPD unter dem Motto „Raus aus dem Euro“ demonstrieren. In der S-Bahn sehe ich aus dem Fenster die ersten Deutschland-Fahnen. Ich stutze kurz, stelle dann aber fest, dass wir nur an einer Schrebergartenanlage vorbei fahren. Die Nazi-Demo ist nicht in Sicht.

Der S-Bahnhof Schöneweide ist wie ausgestorben, als ich gegen halb eins ankomme. Zahlreichen Polizisten nehmen mich in Empfang. Mist, ich bin ziemlich spät dran. Ich merke mir für‘s nächste Mal: Wer blockieren will, muss früh aufstehen. Die Nazis konnten fast ungehindert demonstrieren, die Polizei hat ihnen den Weg frei gemacht und zwischendurch noch Wasserwerfer und Tränengas gegen Gegendemonstranten eingesetzt, wie mir eine Demonstrantin später berichtet.

Polizist verweigert Blumenkette

Auch die Abschlusskundgebung ist schon gelaufen. Auf dem Boden vor dem Lauti-Bus sitzen noch vereinzelt Menschen, ein paar tanzen zu Hip-Hop und Reaggae. Viele sehen aber eher so aus, als ob sie jetzt die Sonne genießen wollen. Eine junge Frau mit lila Mütze verschenkt gegen eine kleine Spende vegane Sandwiches, die sie in einer Schubkarre transportiert. Ich beobachte ein kleines Mädchen, das eine Blumenkette aus Löwenzahn gebastelt hat. Sie ist höchstens vier Jahre alt und ziemlich mutig, denn die Kette will sie einem Polizisten schenken. Er soll sie aufsetzen, fordert sie. Der Polizist weigert sich. Das Mädchen geht enttäuscht weg.

Ich beschließe nach Kreuzberg auf das Myfest zu fahren, denn die DGB-Demo habe ich verpasst. Demo-Stress. Ich nehme mir vor, für‘s nächste Mal einen besseren Zeitplan zu machen und die Party am Vortag sausen zu lassen.

Um 15 Uhr bin ich in Kreuzberg. Hier ist die Hölle los. Bässe dröhnen, Menschen tanzen, viele essen. Etwa 30.000 Besucher sollen hier sein. Gefühlt sind es mindestens doppelt so viele. Auf 19 Bühnen wird Musik gespielt, dazu wird getanzt und Falafel geknabbert. Die Straßenstände sind bunt und vor allem – unpolitisch.

Die revolutionäre 1. Mai-Demo um 18 Uhr will ich auf keinen Fall verpassen. Ich schlendere zum Lausitzer Platz und mache es mir bequem. Nach und nach rollen die Lauti-Busse an. Eine Mutter erklärt ihren Kindern, was das überhaupt ist. „Schau, die haben so große Lautsprecher auf dem Dach und da macht gleich einer Ansangen. Beispielsweise gegen Krieg, für Frieden und dass keine Bäume mehr gefällt werden sollen.“ Die kleinen ZuhörerInnen nicken bedächtig. Eine Polizistin weist die Familie darauf hin, dass es hier bald ungemütlich werden kann und sie jetzt besser gehen sollten.

Balkone an TV-Firmen vermietet

Um Punkt 18 Uhr dröhnt „The final Countdown“ aus den Lautsprechern. Es geht los: „Uns alle vereint, dass die Probleme nicht individuell sind, sondern das System schuld ist. Deswegen wollen wir gemeinsam laut und deutlich Nein sagen zu dem System“, heißt es in den ersten Ansprachen. Alles wird direkt auf Türkisch übersetzt. Seit 26 Jahren gibt es hier schon die revolutionäre erste Mai-Demo. So lange gibt es auch mich. Demonstriert wird gegen steigende Mieten, Zwangsräumung Ausgrenzung, Rassismus und Kapitalismus. Weitere Reden und musikalische Acts sollen auf den Demonstrationszug einstimmen. Ich werde langsam nervös, möchte endlich loslaufen.

Um 19 Uhr ist es so weit, die Demonstration bewegt sich Richtung Eisenbahnstraße. Die Anwohner schauen aus den Fenstern. Einige scheinen ihre Balkone an TV-Firmen vermietet zu haben, die dort mit großen Kameras filmen. Jubel bricht los. Auf dem Dach eines Hauses hat jemand Bengalos angezündet und ein Banner entrollt. „Crisis Racism. Fight Capitalism“, ist dort zu lesen. Die DemonstrantInnen stimmen ein: „A - A - Antifascista“.

Unter den DemonstrantInnen sind Vermummte, Familien, Leute wie ich. Ein Kind bringt ein bisschen Farbe in das Schwarz. In der Hand hält es einen Barbie-Luftballon, die Eltern demonstrieren mit Kinderwagen gegen Kapitalismus.

Hohn den Wasserwerfern

Ich unterhalte mich mit MitdemonstrantInnen. Einigen ist es zu ruhig hier auf der revolutionären ersten Mai-Demo. „Ich bin froh, heute morgen wenigstens in Oberschönweide gewesen zu sein. Sonst hätte es sich nicht gelohnt“, erzählt mir eine Demonstrantin. In der Heinrich-Heine-Straße knallt es dann. Die ersten Böller werden geworfen. Vermummte sprinten an mir vorbei. Die Polizei hinterher.

Bisher habe ich die Polizei kaum wahrgenommen. Die PolizistInnen stehen zwar in den Seitenstraßen, haben alles abgeriegelt, halten sich aber zurück. Noch. Ich bekomme mit, dass es in der Oranienstraße Ausschreitungen gegeben haben soll. Ein Auto umgeworfen wurde und Steine geflogen sind. Wir erreichen die Axel-Springer-Straße. Die Polizeipräsenz wird stärker. Eigentlich sollte die Demonstration durch die Rudi-Dutschke-Straße gehen. Dort ist jetzt aber alles abgeriegelt.

Einige DemonstrantInnen entdecken die Wasserwerfer und höhnen: „Wasser ist für alle da.“ Es bleibt dennoch friedlich. Ich bin erstaunt.

In den vergangenen Jahren hat es die revolutionäre 1. Mai-Demo nie bis an ihr eigentliches Ziel geschafft, jetzt aber sind wir schon inmitten von Berlin-Mitte. Über uns kreisen Hubschrauber. Das passende Gesetz dazu wurde ja schnell noch durchgewunken. Aus dem Lauti-Bus tönt Marschiermusik. Eine Demonstrantin meint: „Das ist so wie die Siegeszugsmusik, weil wir jetzt gleich an der Friedrichstraße sind.“ Dann geht die Sonne unter und Rio Reiser singt „Der Traum ist aus“. Die Demonstration hat ihr Ziel erreicht. Unter den Linden.

Heute doch keine Revolution

Um Viertel nach neun will es die Polizei aber noch einmal wissen. Die PolizistInnen stellen sich in Dreier-Ketten um die DemonstrantInnen. Kesseln uns ein. Ich finde das demonstrative Machtgehabe der Polizei an dieser Stelle unnötig provozierend und überflüssig.

Einige DemonstrantInnen werden wütend und rufen: „Verpisst euch. Das ist unsere Demo!“ Ich fühle Beklemmung. Denke wieder an meinen Vater und die Schlagstöcke von 1963. Heute aber bleibt es ruhig. Vom Lauti-Bus eine letzte Ansage : "Wir werden heute realistischerweise die Revolution nicht mehr schaffen. Die verschieben wir aufs nächste Jahr." Mein Fazit? Viel Party, ein bisschen Demo, nächstes Mal früher aufstehen. Dann klappt es auch mit der Revolution. Bestimmt.

Celestine Hassenfratz ist freie Journalistin und demonstriert sonst nur in Köln

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