Als Hercule Poirot einmal nach Ungarn reiste

Klassiker Seinen einzigen Kriminalroman, „Die Wolfsgrube“, schrieb Szilárd Rubin in bester Agatha-Christie-Manier
Ausgabe 21/2013

Es regnet. „Die Scheinwerfer des Wagens tasten sich in vollkommener Finsternis die Straße entlang, und der Fahrer musste sich nach vorn beugen, da die Scheibenwischer nicht schnell genug arbeiten konnten, um einen Regenschleier zu verhindern.“ Wenig später finden sich sechs alte Freunde samt Frauen oder Geliebten in einem Landhaus in der Nähe von Pécs zusammen, bald darauf ist einer dieser Gäste tot. Erwürgt.

Der Hausherr hat ohnehin nur neun Gedecke. Doch das ist noch kein Mordmotiv, auch wenn hier vieles möglich scheint. Szilárd Rubin hat Figuren und Umstände präzise arrangiert, in seinem einzigen Kriminalroman Die Wolfsgrube, hat alles so klassisch inszeniert, dass es fast wie eine Parodie erscheint – auf Whodunit-Krimis von Agatha Christie beispielsweise.

Vor dem Essen amüsiert sich die Gesellschaft beim Spiel „Mörder und Detektiv“, bei dem man sich in absoluter Dunkelheit ein bisschen näherkommt. Bis einer schreit. Neben der angeblichen Leiche liegt ein Buch. Könnte man damit einen Menschen erschlagen? „Das glaube ich kaum, aber ein misslungenes Werk kann einen Kritiker schon in den Tod treiben.“ Die Stimmung ist heiter. Zunächst.

Szilárd Rubins Roman spielt Anfang der siebziger Jahre in Ungarn, der Zeit seines Erscheinens. Seit den Fünfzigern veröffentlichte der 1927 in Budapest geborene Autor, er starb 2010, wurde aber erst spät gerühmt und neu entdeckt. Die Kurze Geschichte von der ewigen Liebe erschien 2009 auf Deutsch, Eine beinahe alltägliche Geschichte folgte ein Jahr später. „Wolfsgrube“ nun ist auch Bild der damaligen kommunistischen Gesellschaft, Arbeiterwachen tauchen auf, Emigration gehört ebenso zu den Biografien wie Spitzelei und Antisemitismus.

Alle lügen wie gedruckt

Die Freunde haben 1945 gemeinsam Abitur gemacht. Einer trägt weiße Handschuhe, keiner hat mehr eine weiße Weste. Sie haben sich schuldig gemacht an Kollegen, Partnern, Idealen. Und so scheint jeder Satz etwas zu verbergen: die ganze alte Missgunst, der ganze neue Neid, auch Eifersucht schwingt mit.

Ein Apotheker glaubt, an Kehlkopfkrebs erkrankt zu sein, dabei schnürt ihm etwas ganz anderes die Kehle zu: seine Ehefrau, die wiederum auf eine Balletttänzerin nicht gut zu sprechen ist, die bei den Männern dafür gut ankommt, was auch auf die Sprechstundenhilfe zutrifft, deren Arzt zwar verheiratet ist – nur kann er sich nicht sicher sein, wer seine Frau wirklich ist ...

Mit Identitäten ist es ohnedies so eine Sache. Hatte der Biochemiker nicht früher einen kaputten Daumen? Das fällt zumindest dem Polizeioffizier im Bunde auf, der als einer der talentiertesten Mitarbeiter der Spionageabwehr gilt und die Ermittlungen übernimmt in jener regnerischen Nacht, als aus dem Spiel plötzlich Ernst wurde. Es stellt sich schnell heraus: Alle lügen. Alle sind verdächtig. Alle haben ein Motiv. Jeder befindet sich mit jedem „auf einer Höhe gegenseitigen Misstrauens“, wo „der andere sich nur noch mit Beatmungsgerät hätte aufhalten können“. Sie belauern, sie verdächtigen, und sie schwärzen einander an. „Es gibt nichts Gefährlicheres, als wenn man der Gesellschaft alter Freunde überdrüssig wurde und hinter den schönen Erinnerungen die Zwistigkeiten und Kränkungen von einst zum Vorschein kommen“, schreibt der Autor.

Von Seite zu Seite schärft Rubin die Konturen der Charaktere. Er spannt den Bogen immer weiter – mit Spaß an Psychologie und Verwirrspiel. Die Spuren ergeben ein Netz falscher Fährten, in dem sich zwei weitere Tote verfangen. Das Finale löst nicht ganz ein, was das Gesellschaftsporträt zuvor versprach, und allein wegen der Spannung liest wohl kaum jemand Agatha Christie.

Die Wolfsgrube Szilárd Rubin Timea Tankó (Übers.), Rowohlt 2013, 204 S., 17,95 €

Janina Fleischer ist Kulturredakteurin bei der Leipziger Volkszeitung

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