Als Jesus mit den Ärmsten aß

El Salvador II Der Jesuitenpater Jon Sobrino über ein historisches Gesetz, das lange vor der Theologie der Befreiung und Karl Marx existiert hat

Vieles deutet darauf, dass die Theologie der Befreiung heute in Mittelamerika nicht mehr jenen Stellenwert genießt wie noch vor zehn oder fünfzehn Jahren, weil sie gegenüber den realen Lebensverhältnissen der Armen doch recht hilflos blieb - teilen Sie diesen Eindruck?
JON SOBRINO: Zunächst einmal - die Befreiungstheologie hat die Realität dieser Welt so direkt berührt wie keine andere Theologie unserer Tage. Für sie hat stets die Realität regiert, nichts sonst. Und die sechs Pater an meiner Universität sind seinerzeit nicht durch Zufall ermordet wurden.

Es ging mir nicht darum, das Selbstverständnis der Befreiungstheologie in Frage zu stellen, sondern mehr um ihre heutige Beachtung.
Sie ist sicher nicht mehr von demselben weltlichen Glanz umgeben wie in früheren Jahren. Die meisten Studenten in El Salvador interessieren sich kaum noch dafür, wir erleben eine Globalisierung des Desinteresses. Und wir erfahren die Globalisierung der Überzeugung, Geld sei das Wichtigste im Leben - nicht eine Mission oder Verpflichtung. Es gibt inzwischen auch weniger Bücher über diese Theologie, weniger aufgeschlossene Bischöfe, weniger Basisgemeinden. Doch ich glaube, im kollektiven Bewusstsein der Christen ist die Lehre von Leonardo Boff oder Gustavo Gutierrez noch immer präsent - warum sonst würden so viele Leute danach fragen?

Haben sich die Lebensbedingungen in El Salvador nach dem Bürgerkrieg soweit verändert, dass aus diesem Grunde die soziale Mission der Befreiungstheologie erschöpft sein könnte?
Im Gegenteil, es gibt heute mehr Armut als in den achtziger und neunziger Jahren, das ist ein Geschenk der Globalisierung und der Privatisierung von Demokratie. In ganz Lateinamerika hat die Armut zugenommen, Chile und Uruguay sind die einzigen Ausnahmen. Es ist zynisch darüber zu spekulieren, was von der Befreiungstheologie übrig geblieben sein könnte, ohne zugleich danach zu fragen, warum heute mehr Menschen in Armut leben.

Aber was ist tatsächlich von der Gründungsintention Ihrer Glaubenslehre geblieben?
Auf alle Fälle das, was die Anhänger unserer Bewegung von Anfang an gesagt haben: Die Welt lebt mit einer großen Sünde. Die Bedürftigen und Unterdrückten sterben langsam und gewaltsam. An Gott zu glauben, bedeutet, sich mit ihnen zu solidarisieren ...

... gerade in diesem Zusammenhang ist den Befreiungstheologen oft vorgeworfen worden, Spediteure der marxistischen Theorie zu sein.
Die Befreiungstheologen und die Propheten und auch der 1980 ermordete Erzbischof von San Salvador, Oscar Arnulfo Romero - sie alle haben gesagt: Die Akkumulation des Reichtums ist ein schrecklicher Skandal! Das ist so - mit oder ohne Marx.

Aber der Vatikan hat gleichzeitig immer wieder gefordert, die Befreiungstheologen müssten sich offensiv und kritisch mit Marx auseinandersetzen.
Sicher, aber zum einen war Marx ein bedeutender Theoretiker, zum anderen gab es hier in El Salvador stets eine sehr spezifische Definition des Marxismus: Er ist das, was nicht sein darf - das Böse schlechthin. Als Jesus mit den Ärmsten gegessen hat, nannten sie ihn einen Trunkenbold. Als er sich mit Sündern und Prostituierten angefreundet hatte, wurde er verachtet. Wann immer jemand auftaucht, der das heuchlerische Verhalten der Mächtigen bloßstellt, wird er beschimpft, diffamiert und irgendwann auch umgebracht. Das ist ein historisches Gesetz, das schon lange vor der Befreiungstheologie und vor Karl Marx existiert hat.

Das Gespräch führte Andreas Boueke


Wo ist der Ausweg?

Ich meine, dass der Ausweg die Befreiungstheologie ist. Warum? Weil der Ausweg im Glauben liegen muss. Aber es gibt verschiedene Arten von Glauben. Es gibt einige Glaubensformen, die schädlich und destruktiv sind, wie jene, die zu kollektivem Selbstmord führen. Es gibt auch einen rein spirituellen Glauben, der unfähig ist, die Welt zu verändern. Der einzige Weg ist der Glaube an die Revolution, der identisch ist mit dem Glauben an das Königreich oder genauer übersetzt: an das Reich Gottes. Zu Lebzeiten Christi hatte der Begriff Königreich dieselbe subversive Bedeutung wie in unserem Zeitalter das Wort Revolution. Dieser Glaube an die Theologie und Mystik der Revolution ist es, der wieder Hoffnung spenden kann. Mit diesem Glauben können wir wieder von Sozialismus sprechen.

Ernesto Cardenal, 1998

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