Die Aufgeregtheit und Nervosität der französischen Kommilitonen war mit jedem Tag gestiegen, bis die Tartarenmeldung schließlich in den Hörsaal schwappte, in dem Alfred Grosser, das Fleisch gewordene Gewissen der deutsch-französischen Freundschaft, gerade seine wöchentliche Presseschau ablieferte und sorgsam ausgeschnittene Zeitungsartikel von rechts nach links schichtete, dabei die jüngsten Wendungen der Weltpolitik kommentierte und seinen Privatkrieg gegen die französischen Kommunisten führte: DIE MAUER IST OFFEN! - Wie im besten griechischen Drama kam die Kunde von draußen. Selten wohl traf geschichtlicher Wille auf ein besser vorbereitetes Publikum. Den Franzosen erschienen der Mauerfall und die deutsche Vereinigung im Jahr darauf so unausweichlich wie der Donnerschlag nach einem Blitz. Wenn es so etwas wie einen nationalen Albtraum gab, der alle Generationen einer Gesellschaft gleichermaßen umtrieb, dann war es der von einer deutschen Wiedervereinigung - sie war nach 1945 das Schreckgespenst der Grande Nation. Seit der Teilung Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Franzosen insgeheim felsenfest davon überzeugt, dass die Maschine der Historie eines Tages den Rückwärtsgang einlegen würde, und die Nachbarn jenseits des Rheins - diese "germanische Masse", wie General de Gaulle in Momenten dunkler Anwandlung zu sagen pflegte - wieder zusammenfänden.
Von dieser erwarteten und doch so jähen Wende hat sich das Land bis heute nicht recht erholt. Jacques Chirac - inzwischen Staatspräsident und seinerzeit dem Sozialisten Francois Mitterrand gerade im Wahlkampf unterlegen - gab den Ton vor, als er Ende 1989 in den Abendnachrichten des französischen Fernsehens erklärte: "Die deutsche Einheit ist unvermeidlich, sie ist wünschenswert - und ich habe keine Angst vor ihr." Die Reihenfolge seiner Gedanken war verräterisch. Überrumpelt von der Geschwindigkeit der Ereignisse, dann benommen vom nationalen Rausch, tat die Regierung Kohl herzlich wenig, um Angst und Panik der Franzosen entgegenzuwirken.
Seinen "Zehn-Punkte-Plan" zur deutschen Einheit präsentierte der Kanzler im Bundestag, ohne vorher Rücksprache mit Paris zu halten. Nie wieder ist der "Elysée-Vertrag" lächerlicher vorgeführt worden als in diesem Augenblick. Das grundlegende deutsch-französische Abkommen von 1963, das Kohl-Großvater Konrad Adenauer und Charles de Gaulle unterschrieben hatten, sah ausdrücklich gegenseitige Absprachen in wesentlichen außenpolitischen Fragen vor. Die Bonner Christdemokraten, die bis dato Zweistaatlichkeit lebten und rheinisches Abendland predigten, erhielten sofort die Quittung für ihren forschen, isolationistischen Kurs. Im Dezember 1989 eilte Francois Mitterrand zu Ministerpräsident Hans Modrow nach Ost-Berlin. Der Präsident - ein Gegner der deutschen Einheit, der Ostdeutschland nur aus einer Zeit der Kriegsgefangenschaft kannte - versuchte seinen Gastgeber zu ermuntern: Warum sollten die Ostdeutschen nicht die Identität ihrer Republik aufrechterhalten? Zuvor war er schon nach Kiew geflogen, um mit Gorbatschow über die rasante Entwicklung in Deutschland zu sprechen. Immer wieder soll er dabei vor einer "Rückkehr des Jahres 1913" gewarnt haben - also vor einem unberechenbaren, kriegslüsternen Großdeutschland.
Als Kohl schließlich mit dem Eiertanz um die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie begann, fuhr der Elysée seinen, in dieser Zeit einzigen diplomatischen Sieg ein: Im März 1990 lud Mitterrand den polnischen Premier Tadeusz Mazowiecki - Warschaus erster nichtkommunistischer Regierungschef seit 1945 - und den Präsidenten Wojciech Jaruzelski nach Paris ein. Alles andere als eine vertragliche Festschreibung der deutsch-polnischen Grenze sei inakzeptabel, erklärte er dabei öffentlich. Die Bundesregierung begriff, was sie zu tun hatte.
Auf diese Phase der Konfrontation zwischen Bonn und Paris folgte bald die europäische Partie mit ihren Winkelzügen. Deutsche wie Franzosen drängten innerhalb der Europäischen Union auf den Regierungsvertrag von Maastricht. Das Tauschgeschäft war durchschaubar und simpel, aber beide Seiten versuchten, sich irgendwie darüber hinweg zu lügen: Deutsche Einheit gegen Abschaffung der D-Mark, dem einzigen Symbol bundesdeutscher Macht. Allerdings hat die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) das Misstrauen und die Rivalitätsgefühle der Franzosen nie beseitigen können: Seit zehn Jahren sieht sich Paris in einem Wettrennen mit der deutschen Wirtschaftsmaschine um Macht und Einfluss in Osteuropa. - Zweifellos wurden mit der deutschen Einheit viele Fehler begangen - vermeidbare und unvermeidbare. Die Zurücksetzung - ja teilweise Demütigung - der Franzosen war einer von denen, die vermeidbar waren.
Es gab Kommilitonen am Pariser Institut für Politikwissenschaften, die aus der kurzen freien Woche um "Toussaint" - um "Allerheiligen" - im November 1989 gar nicht mehr auftauchten, sondern kurz entschlossen ein Auto gemietet hatten und auf dem Weg nach Berlin waren, um das Loch in der Mauer zu besichtigen. "Westberlin", dieses sonderbare Biotop zwischen Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik, "das dritte Deutschland", hatte die Franzosen immer schon fasziniert: Weniger geregelt, weniger langweilig als die beiden deutschen Staaten, schrill, bizarr, eigenwillig und erdrückend grau zugleich. Nun wurde Berlin zum Mikrokosmos aller Revolutionen in Osteuropa. Gerade in diesen Wochen wollte man eine sich abzeichnende deutsche Einheit auch als Chance begreifen, um zu einer aufrichtigeren Verständigung mit den Deutschen zu kommen. Als die Mauer gefallen war, musste nicht jede ihrer politischen Entscheidungen weiter unter Verdacht stehen, irgendwo eine Hintertür für die Wiedervereinigung offenzulassen. Und zeigt sich im Rückblick zehn Jahre danach nicht sehr deutlich, dass die aufgebrachten Reaktionen der Franzosen (wie auch der Briten) und die Tapsigkeit der Kohl-Regierung unmittelbar nach der Grenzöffnung längst hinter einer strategischen Neuordnung Europas verschwunden sind, hinter Zielen - wie der europäischen Integration oder der Osterweiterung der NATO?
Um an die Polemik um Frankreichs atomare Kurzstreckenwaffen, die nach dem Kriegsszenario der Force de Frappe mitten in Deutschland explodieren sollten, erinnern zu können, müssen längst die Zeitungsarchive in Frankfurt, Hamburg, München oder wo auch immer bemüht werden. Paris hat sein altes Kurzstreckenpotenzial Anfang der neunziger Jahre zerstören und die damals neuen Raketen einmotten lassen. Auch über die seltsamen Angebote einer strategischen Beteiligung Deutschlands am französischen Atomarsenal spricht derzeit niemand mehr. Nicht zuletzt der Kosovo-Krieg hat begreifen lassen, dass Deutsche und Franzosen mit den anderen EU-Staaten auf einer viel praktischeren Ebene kooperieren müssen: Der "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) nunmehr einen eigenen Sprecher zu gönnen (Ex-NATO-Generalsekretär Solana) - es ist das Resultat eines mühseligen diplomatischen Pingpong-Spiels zwischen Paris und Berlin. Unvollkommen, aber existent.
Mit der Einführung des Euro ist viel vom Minderwertigkeitskomplex der Franzosen gegenüber den Deutschen verflogen. Im Sommer 1993 noch, als das Europäische Wäh rungssystem mit seinen festgesetzten Schwankungsbreiten endgültig zusammenbrach, entlud sich in Paris der ganze Frust über Kohl und die Wiedervereinigung. Die Deutschen finanzierten ihre Einheit über hohe Zinssätze auf dem Rücken der anderen Europäer, lautete der Vorwurf. Tatsächlich aber war die Bundesbank bereits im September 1992 der Banque de France beigesprungen - nicht den Briten und nicht den Italienern - als der Börsen-Guru George Soros und seine Trittbrettfahrer versuchten, den Franc totzuspekulieren. Kohls Finanzminister Waigel mochte die Franzosen dann jahrelang mit seinen "Maastricht-Kriterien" nerven: Heute liegen die Haushaltsdefizite in der EU nun einmal - wie in Maastricht beschlossen - unter den ominösen drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts - und der Zuchtmeister sitzt nur noch als zurückgestufter CSU-Parlamentarier im Bundestag. Deutschland wie Frankreich haben in der zweiten Hälfte der Neunziger die politischen Mehrheiten der Einigungsjahre hinter sich gelassen: Die Franzosen wählten 1995 einen neuen Präsidenten und 1997 einen neuen Premier, die Deutschen 1998 eine rot-grüne Bundesregierung. "Wir mussten erst wieder lernen zusammenzuarbeiten", hat der französische Außenminister Védrine dieser Tage in einem gemeinsamen Interview mit seinem Kollegen Fischer zugegeben.
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