Jeden Tag könnte sie fallen, die Regierung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Dass sie sich - trotz wochenlanger Streiks in der Ölindustrie, trotz geschlossener Opposition der Reichen, der städtischen Mittelschichten und nicht zuletzt der privaten Medien - überhaupt so lange halten konnte, ist fast schon ein Wunder. In einem Interview mit der aus Chile stammenden Journalistin Marta Harnecker hat Chávez versucht, die Rolle der Streitkräfte in seiner "Bolivarischen Revolution" zu erklären.
MARTA HARNECKER: Man wirft Ihnen vor, dass Sie zu viele Militärs in Ihr Kabinett berufen haben. HUGO CHÁVEZ: Natürlich haben Sie Recht, wenn Sie bemerkt haben, dass in meiner Regierung viele Offiziere vertreten sind. Um das zu verstehen,
n sind. Um das zu verstehen, müssen wir uns aber zurück erinnern an den 2. Februar 1999, also an den Beginn meiner Amtszeit. Damals waren nahezu alle Gouverneure und Gemeindeverwaltungen auf der Seite der Opposition, der Kongress war gegen mich und auch der Oberste Gerichtshof. Der Staatshaushalt war bereits in nahezu allen Punkten festgelegt. Und der Ölpreis lag bei sieben Dollar pro Barrel. Wir waren eine Regierung, die unter diesen Bedingungen kaum Handlungsspielräume hatte. Andererseits gab es ungeheure Erwartungen, die mit unserem Wahlsieg verbunden waren. Tausende von Menschen umringten damals den Präsidentenpalast: Sie wollten Jobs, sie hatten ihre kranken Kinder mitgebracht, sie schliefen auf dem Boden, und sie waren sehr entschlossen. "Wir gehen nicht weg, bevor Chávez uns nicht angehört hat." Bedenken muss man schließlich auch, dass es heftige Auseinandersetzungen gab über die neue Verfassung des Landes, die wir durchsetzen wollten. In dieser Situation entschloss ich mich, auch die Streitkräfte einzusetzen. Rückblickend bin ich fest davon überzeugt, dass unser Plan Bolívar 2000 ohne die Beteiligung des Militärs nicht hätte auf den Weg gebracht werden können.Worin bestand dieser Plan? Der Plan Bolívar 2000 begann als gleichzeitig ziviles und militärisches Projekt. Mein Befehl an die Soldaten lautete: "Geht von Haus zu Haus und durchkämmt das Gelände. Der Feind. Wer ist der Feind? Der Hunger." So begannen wir am 27. Februar 1999, genau zehn Jahre nach dem Caracazo(*), mit unserer Aktion, die man auch als Buße des Militärs vor dem Volk verstehen muss. Ich sagte zu meinen Soldaten: "Vor zehn Jahren gingen wir hinaus und massakrierten das Volk. Jetzt kommen wir erneut und bringen Liebe. Geht hin und durchkämmt das Gelände, schaut nach dem Elend. Der Feind ist der Tod. Wir werden ihnen Zeichen des Lebens bringen und keine Salven des Todes." Und in der Tat, die Antwort war wirklich beeindruckend. Während wir, die Politiker, den politischen Kampf führten, waren 40.000 Soldaten ausgerückt, um für das Wohl des Volkes zu sorgen. Mit schwerem militärischem Gerät haben sie Straßen instand gesetzt, mit Militärflugzeugen sind sie in die entlegensten und ärmsten Regionen geflogen, um zu helfen.Gingen diese Aktionen von den Streitkräften selbst aus oder haben Sie das angeordnet? Sowohl als auch. Zu meinen Einheiten sagte ich: "Zeigt mir euren Plan und nennt die Ressourcen, die ihr zur Verfügung habt." So begann die Geschichte Schritt für Schritt. Die Luftwaffe versorgte die unzugänglichen Gebiete, in denen keine Straßen existieren. Die Marinesoldaten organisierten ihren Plan Pescar 2000: Sie halfen den Fischern, Kooperativen zu gründen und unterstützten sie auch bei einfachen Dingen, etwa der Reparatur ihrer Kühlanlagen. Der Nationalgarde wiederum gaben wir die Aufgabe, die Bürger zu schützen und die Kriminalität unter Kontrolle zu bringen. Selbst bei einigen indigenen Völkern, für die der Staat noch nie etwas getan hatte, wurden sie tätig. Es gibt dort Dinge, die uns wie Wunder erscheinen mögen, auch wenn man berücksichtigen muss, dass es hier und da Improvisationen und auch Korruption innerhalb des Militärs gegeben hat, insbesondere unter den höheren Offizieren. Aber insgesamt haben die Soldaten ein erstaunliches soziales Gewissen entwickelt. So hat sich die Nationalgarde den Plan Casiquiare 2000 ausgedacht. Casiquiare ist ein Fluss im Dschungel, an dem vor allem indigene Völker leben. Die Nationalgarde baute dschungeltaugliche Boote, um von Dorf zu Dorf zu fahren, um Medikamente und Ärzte zur Versorgung der Menschen zu bringen. Außerdem wurden Häuser gebaut, und zwar nach den Plänen der Menschen und nicht nach dem, was wir für richtig hielten.Inwieweit haben Sie überprüft, ob die Soldaten tatsächlich in diesem Sinne handelten? Vor vielen Jahren bin ich zu den Barranco-Yopal-Indianern gereist. Ich hatte Bleche und ähnliche Baumaterialien für die Hütten mitgenommen, die nur im Winter bewohnt werden. Sie waren Nomaden, Jäger und Sammler, wie vor 500 Jahren. Ich habe Frauen gesehen, die irgendwo auf einem Hügel ihr Kind zur Welt brachten, die Plazenta wegwarfen, das Baby säuberten und dann weitergingen. Viele Kinder sind an Malaria, Tuberkulose oder anderen Krankheiten gestorben. In den Dörfern war Alkoholismus sehr verbreitet. Viele Frauen wurden vergewaltigt. Um Nahrungsmittel wurde gekämpft. Aber was sehe ich heute, wenn ich in dieses Gebiet zurückkehre? Ich sehe Soldaten und Agrartechniker, die eine Mütze mit der Aufschrift Plan Bolívar tragen und tatkräftig anpacken, um die Lage der Menschen zu verbessern.Wie hat die indigene Bevölkerung reagiert? Die Menschen in den Dörfern veränderten sich, man konnte es von ihren Gesichtern ablesen. Sie nahmen mich mit zu ihren Feldern. Auf wenigen Hektar wurden Zuckerrohr, Wassermelonen, Bananen, Getreide und Papayas angebaut. Sie hatten genug zu essen, und sie fragten sogar nach einem Lastwagen, der ihre Ernte zum Markt bringt. Kleine Motorboote zum Fischen und zum Transport hatten sie bereits bekommen, nachdem sie vorher nur mit Speeren und Harpunen vom Ufer aus gejagt hatten. Eines Tages habe ich in der Region eine Rede gehalten und Nietzsches Zarathustra zitiert: "Vor 15 Jahren kam ich hierher, und ich habe euch mit eurer Asche gesehen. Jetzt bin ich zurück, und ich sehe euch mit eurem Feuer."Sind die Soldaten immer noch im ganzen Lande unterwegs? Das Anfangsstadium unseres Plan Bolívar haben wir natürlich längst hinter uns gelassen. In den Kommunen sind nicht mehr hunderte von Soldaten unterwegs. Heute beschränken sie sich darauf, die begonnenen Projekte mit den lokalen und regionalen Behörden zu koordinieren. Darüber hinaus aber herrscht wieder regulärer Militärdienst. In der Zwischenzeit haben wir allerdings die jüngeren und zum beträchtlichen Teil arbeitslosen Reservisten organisiert, damit auch sie auf der Grundlage von Kleinkrediten Kooperativen gründen und stillgelegte Betriebe übernehmen.(*) Hungerrevolte in den Vororten von Caracas Anfang 1989, die von der Armee auf Befehl des sozialdemokratischen Präsidenten Andrés Perez blutig niedergeschlagen wurde.
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