Altar trifft Asphalt

Frankreich Macron hat zunehmend mit der Wut der Straße zu kämpfen. Schaufensterreden allein werden da nicht ausreichen
Ausgabe 47/2018
Teilnehmer der Gelbwesten-Demonstrationen protestieren im Kraftfahrzeug gegen hohe Spritpreise
Teilnehmer der Gelbwesten-Demonstrationen protestieren im Kraftfahrzeug gegen hohe Spritpreise

Foto: Sebastien Salom Gomis/AFP/Getty Images

Frankreichs Staatschef bläst der Wind ins Gesicht, nicht erst seit dem Protest der Bewegung „Gilets jaunes“ (gelbe Warnjacken) und ihrer „Opération escargot“ (Aktion Schnecke). Schnecken sind langsam und beharrlich. Macron ist schnell und sprunghaft. Das ist ihm nicht gut bekommen. Mit einer Reihe von schnellen „Reformen“ oder deren Ankündigung hat er die Bürger verunsichert und sich selbst überfordert. Die Luftsprünge des Weder-links-noch-rechts-auf-jeden-Fall-sofort-Präsidenten trugen ihm nur den Ruf ein, Präsident der Reichen zu sein. Selbstkritik gehört nicht zu den Tugenden von Göttern, und auch nicht zu jenen Macrons, den viele „Jupiter“ nennen.

Vergangene Woche lud der Staatschef den Fernsehsender TF1 auf den prestigebeladenen Flugzeugträger Charles de Gaulle, um zu bekennen: „Es ist mir nicht gelungen, das französische Volk mit seinen Regierenden zu versöhnen. Die Bürger wollen heute drei Dinge: Respekt, Sicherheit, Lösungen. Keine Deklarationen. Lösungen. Wertschätzung hat man ihnen ohne Zweifel nicht genug entgegengebracht. Wertschätzen heißt zuhören, wenn die Leute sich beklagen.“

Weder dieser Auftritt noch Macrons Erinnerungstour über die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs konnten den Unmut dämpfen und den Absturz bei den Umfragewerten aufhalten.

Für Klagen hatte und hat der „menu peuple“ (das gemeine Volk) in Frankreich seit Jahrzehnten allen Grund, vor allem jene überwältigende Mehrheit, die nicht in den gut situierten Gegenden der Städte wohnt, sondern in deren Peripherie, in trostlosen Vorstädten, auf dem Land oder in kleineren Städten schwach besiedelter Regionen. Überall außerhalb der wohlhabenden Gegenden fehlt es seit Jahren zunehmend an allem, vorab öffentlichen Verkehrsmitteln, Fachgeschäften, Schulen, Kultur, Ärzten, Hospitälern, Restaurants. Riesige Einkaufszentren am Rand von Kleinstädten lassen urbane Strukturen sozial veröden und kulturell verwüsten. Der ländliche Raum und die Provinz, das sind die Regionen der weiten Wege – Mobilität wird zum Kostenfaktor.

Deshalb stieß schon die Preiserhöhung Anfang 2018 – für Diesel um acht Cent und für Benzin um vier – auf Unverständnis. Die Ankündigung, am 1. Januar 2019 die Preise für Benzin erneut um sechs Cent und für Diesel um drei zu erhöhen, brachte das Fass der Unzufriedenheit zum Überlaufen. In kurzer Zeit bildete sich ohne Mithilfe von Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen, nur getragen und koordiniert von sozialen Medien, die Bewegung „Gilets jaunes“. Am zurückliegenden Wochenende demonstrierten an gut 2.000 Orten rund 300.000 Menschen, manche erstmals in ihrem Leben.

Von den konservativen Republikanern (LR) und Marine Le Pens Rassemblement National (RN) bis zu Mélenchons La France Insoumise (LFI) versuchen jetzt fast alle Parteien, die Proteste zu instrumentalisieren. In Berlin ging Macron in seiner Schaufensterrede über Europa mit keinem Wort auf den Aufruhr zu Hause ein.

In Paris verstand man die Festrede auch als Beitrag zur deutschnationalen Denkmalpflege. „Volkstrauertag“, wie der 1952 von Konrad Adenauer umgetaufte, nationalsozialistische „Heldengedenktag“ seither heißt, lässt sich aus dem Französischen nur verfälschend mit „Jour de Deuil national“ (Tag der nationalen Trauer) oder mit „Jour de Commémoration nationale“ (Tag des nationalen Gedenkens) übersetzen. Wer hat Bedarf dafür?

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