Alte Aufkleber

Verbindungen Sich mit Lateinamerika zu identifizieren ist schwierig - selbst die Lateinamerikaner waren noch nie dort

Einer der Aufkleber, der die Busflotte des öffentlichen peruanischen Nahverkehrs ziert, die man auch „Kombis“ nennt, ist die berühmte Großaufnahme Ché Guevaras. Neulich hat mein Großvater den Ticketverkäufer im Bus aufs Glatteis geführt. Er weigerte sich, ein Ticket zu kaufen, da ja ein Aufkleber des kommunistischen Oberhauptes an der Tür prangte. Aber der arme Junge wusste gar nicht, wofür dieser Mann mit dem entschlossenen Blick und dem Schnurrbärtchen steht.

Das Konzept der lateinamerikanischen Identität scheint sich auf Symbole zu stützen, die so sehr manipuliert wurden, dass sie ihre tiefere Bedeutung verloren haben – wie ein Porträtrelief auf einer Münze, das durch den Gebrauch bis zur Unkenntlichkeit abgenutzt wurde. Viele versuchen, ihre Identität an einem anderen Ort neu zu finden. Das vereint uns auf eine Art. Auf der ganzen Welt gibt es Millionen Lateinamerikaner, die ihr Talent und ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen und eine andere Kultur „lernen“, auch wenn sie meist – nicht nur, wenn sie indigene Gesichtszüge tragen – feindselig behandelt werden und sie sich als Dritte-Welt-Bürger fühlen. Ein Déjà-Vù der Eroberung und der Plünderung, des Von-Vorne-Anfangens. Was uns aber noch mehr vereint, ist das Internet, Youtube, Facebook, das Ende von „Lost“, Lady Gaga, Modetrends, die Sorge vor dem Ende der Welt, die Suche nach Liebe… aber damit sind wir bei einer Definition von „Menschheit“.

Warum also schließen wir uns in Blöcken zusammen? Warum nicht die Verschiedenheiten respektieren und schätzen, und die Vielfalt bewahren? Die „Lateinamerikanische Union“ kann für politische Zwecke funktionieren, wirtschaftliche Modelle in einer Region stärken oder mit anderen Vereinigungen, den USA, Asien oder Europa, konkurrieren. Oder dazu, die Sichtweise zu vereinfachen, damit man sagen kann: Ein Lateinamerikaner hat „uns“ auf einem Festival oder einem internationalen Event vertreten. Die Europäer müssen wohl ein klareres Bild von uns Lateinamerikanern haben als wir selbst.

In Peru leben so viele Kulturen und Ethnien neben- und miteinander. Wir haben unter so vielen internen Konflikten und Diskriminierungen gelitten, dass bis vor zehn Jahren nur zehn Prozent der Peruaner in Umfragen angaben, sie seien darauf stolz – die Mehrheit der Bevölkerung wäre lieber in einem anderen Land geboren. Heute, nach einem Wirtschaftswachstum und intensiven sozialen Kampagnen von Seiten der Regierung und privaten Initiativen, ist die Toleranz größer geworden und die Bereitschaft, ein nationales Bewusstsein zu entwickeln, hat zugenommen. Ich persönlich bin stolz darauf, Peruanerin zu sein, weil ich die Gelegenheit hatte mein Land kennenzulernen: die beeindruckenden Kulturen, die viele Dorfgemeinschaften entwickelt haben, die Vielfalt der biologischen Arten, die hier noch nicht vom Aussterben bedroht sind. Reichtümer, die es zu schützen gilt.

Ich weiß, dass ich jetzt zum Schluss nur noch von einem Land spreche, aber mich mit Lateinamerika zu identifizieren ist schwierig – ich war noch nie dort!

Tilsa Otta, geboren 1982 in Lima, Peru. Sie schreibt Lyrik und Erzählungen und arbeitet mit visuellen Medien. Ihr Blog heißt secretariadeloinvisible.blogspot.com.


Auf schreiben 20 lateinamerikanische und deutsche Autorinnen und Autoren unter 40 Jahren von Juni bis Oktober 2010 über ihren Alltag. Sie erzählen in Blog-Einträgen von persönlichen Erfahrungen und Realitäten, darüber wie sie in ihren Ländern Geschichte, Sexualität, politische Teilhabe und Globalisierung wahrnehmen. Alle Texte werden ins Deutsche übersetzt. Eine Auswahl finden Sie auf freitag.de/superdemokraticos ebenso wie alle Blogs aus der Freitag-Community zum Thema Lateinamerika. Wer selbst dort erscheinen will, versieht seinen Blogeintrag auf freitag.de mit dem Tag superdemokraticos.

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Übersetzung: Barbara Buxbaum
Geschrieben von

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