Das Buch zum Skandal? Zugegeben: das Timing war nicht schlecht. Ihm jedoch niedere materielle Motive zu unterstellen, würde dem leidenschaftlichen Berufspolitiker und bekennenden Konservativen Friedbert Pflüger wohl kaum gerecht werden. Pflügers Opus ist keine systematische Analyse der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Kohl, sondern eher ein Potpourri aus Tagebuchaufzeichnungen, Erinnerungssegmenten und aktuellen Beobachtungen, intelligent montiert und mit eleganten Zwischentiteln versehen. Überaus spannend: Pflügers Darstellung der Kohlschen Personalpolitik; wohltuend unpathetisch: die Schilderung des parlamentarischen Alltagsgeschäfts; sehr mutig: das Eingestehen wiederholten persönlichen Versagens als Politiker; noch mutiger: die offensive Behandlung des Diätenproblems ...
Gleichzeitig ist es eine Streitschrift: für die zügige Abnabelung der CDU von ihrem zur Bürde gewordenen Übervater Kohl, aber auch wider alle Versuche, dessen außen- und europapolitisches Lebenswerk zu entwerten. Der argumentative Spagat, auf den sich der Autor hier einlässt, gelingt jedoch nur sehr bedingt: Einerseits wird Pflüger nicht müde zu unterstreichen, was immer Helmut Kohl als CDU-Vorsitzender verzapft habe, seine Leistungen als "Kanzler der deutschen und europäischen Einheit" blieben davon unberührt. Andererseits will er nicht ausschließen, dass Kohl im Ergebnis zunehmender Unfähigkeit, neue Informationen aufzunehmen, eine "Selbstgewissheit" ausgeprägt habe, ohne die seine großen Erfolge in der Außen- und Europapolitik nicht möglich gewesen wären. Also doch ein Zusammenhang, und noch dazu ein sehr fataler: Wie seriös können die außen- und europapolitischen Aktivitäten eines Mannes sein, der nichts weiter als ein eitler Autist ist ...
Noch problematischer: Pflügers zweite zentrale Botschaft: Was immer das "System Kohl" auch angerichtet haben mag, der CDU und der Bundesrepublik Deutschland könne es nichts anhaben. Partei und Staat seien nicht in Gefahr, im Gegenteil: beide würden gestärkt aus der gegenwärtigen Krise hervorgehen: Nunmehr seien die verkrusteten Machtstrukturen aufgebrochen, würden debattiert und analysiert. Der alte Schmutz könne endlich abfallen. Einer grundlegenden Reformierung der bundesdeutschen Parteiendemokratie und der CDU selbst stehe damit nichts mehr im Wege. Die "Selbstreinigungskräfte" innerhalb der Partei sowie die unverwüstliche moralisch-ethische Grundsubstanz des hiesigen Gemeinwesens böten ausreichend Gewähr dafür, dass sowohl die CDU als auch der deutsche Staat in gar nicht allzu weiter Zukunft prächtiger als je zuvor dastehen würden ...
Spätestens hier wird Pflüger ideologisch: Keine Einmischung bitte, die CDU könne und werde sich selbst aus dem Skandalsumpf ziehen und damit einen vitalen Beitrag zur Weiterentwicklung der bundesdeutschen Parteiendemokratie leisten. Die Frage, ob das "System Kohl" letztlich nur eine konkrete Entäußerung des "Systems Bundesrepublik" ist, stellt sich für Pflüger zu keinem Zeitpunkt: Kohl hat gefehlt, nicht die Masse der CDU-Mitglieder und schon gar nicht die bundesdeutsche Gesellschaft. Was der Autor letztlich will, ist ein bisschen künstliche Negativität, die das System an der einen oder anderen Stelle verbessert, insgesamt jedoch qualitativ nicht verändert. Als ehemalige DDR-Bürgerin kann ich diesen Ansatz durchaus nachvollziehen, weiß aber auch, dass er bestehende Probleme eher verschärft. Wer ein bestehendes System tatsächlich erneuern will, muss das Zentrum dieser Erneuerung nach "außen" verlagern, das hießt das System insgesamt in Frage stellen. Versuche, ausschließlich von innen heraus ein System zu verändern, schaden diesem in der Regel mehr als sie ihm nützen.
Nein, was dieses Land wirklich braucht, ist nicht künstliche, sondern organische Negativität: nicht die bloße Wiederherstellung freier gesellschaftlicher Räume für kritische Analysen und Debatten, sondern energische Repolitisierung der Massengesellschaft im Sinne einer Rekultivierung der persönlichen Autonomie eines jeden Individuums. Eine Reform der bundesdeutschen Parteiendemokratie, so umfassend sie auch sein mag, kann dazu nur einen geringen Beitrag leisten. Nicht der "geordnete Rückzug der Parteien aus all jenen Bereichen, in denen sie nichts zu suchen haben", sondern deren Transformation in Einheiten zur gesellschaftlichen Ermächtigung der Bürger, darum sollte es in Zukunft gehen.
Friedbert Pflüger, Ehrenwort, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart München 2000. 240 S., 36,- DM
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