Am besten Mitwischen

Sportpatz Schneller, höher, weiter

Schneller, höher, weiter - von den im Sport leitenden Maximen gilt besonders die der Beschleunigung für den Wintersport. Fast alles, was sich auf Eis und Schnee bewegt, tut dies in kaum noch steigerbarem Tempo. Der winterlichen Raserei ist vor Ort oder vor der Glotze kaum noch zu folgen: Schon beim Skirennen saust der Sportler nur kurz durch das Wahrnehmungsfeld, vom Vorbeizischen des Bobs im Eiskanal ganz zu schweigen. Der Zuschauer starrt den immer schon entschwundenen Akteuren und Gerätschaften hinterher, denn Material und Mensch darauf sind schneller als die Sinne.

Anders als im Sommer, wo es dank der vielen Ballvariationen verspielter zugeht, haben nur zwei der olympischen Wintersportarten überhaupt spielerischen Charakter: Eishockey und Curling. Und Curling stellt einen Lichtblick inmitten der winterlichen Hektik dar, weil es sich ganz wunderbar und in Ruhe betrachten lässt. Curling ist meditativ: Die runden Steine gleiten über das Eis, das Auge kann entspannt folgen. Es geht um Präzision, nicht um Geschwindigkeit.

Ein Massensport ist Curling nicht. Schon weil eine Eisfläche vonnöten ist, blieb der Zeitvertreib lange auf nördliche oder winterliche Landschaften beschränkt. Die Schotten erheben Anspruch darauf, zuerst - schon im 16. Jahrhundert nämlich - Dinge auf Eis geworfen zu haben. Geschleudert wurde alles mögliche: Stein, Holz - Hauptsache, es rutschte. Auch in Skandinavien, der Schweiz, Kanada und Nordamerika hat es im Winter Tradition, sich nicht nur steile Hänge herunterzustürzen, sondern auch eine Art Kegeln auf dem Eis zu veranstalten. Regionale Vorlieben bildeten sich heraus, wie etwa das deutsche "Eisschießen", bei dem ein Zielwürfel getroffen werden muss. Durchgesetzt hat sich die schottische Variante; hier versuchen zwei vierköpfige Teams, ihre Steine so zentral wie möglich im "Haus", der horizontalen Zielscheibe am Ende der Eisbahn, unterzubringen. Wie sich dies Spiel jüngst verbreitet und an Popularität gewonnen hat, zeigt die laufende Europameisterschaft in Garmisch-Partenkirchen, bei der 58 Teams aus 32 Nationen an den Start gingen. Darunter so überraschend sommerliche Kandidaten wie Spanien und Griechenland.

Ein am niedrigen Tempo des Curlings und der fehlenden Gefahr für Leib und Leben orientiertes Vorurteil besagt, es handele sich um eine winterliche Betätigung für Menschen, welche die Piste vor 20 Jahren und die Loipe vor zehn verlassen hätten. Derartige Einschätzungen ändern sich jedoch modebedingt, man denke nur an Golf. Auch Boule galt lange als Hobby älterer Herren in südlichen Gefilden, während neuerdings jeden Sommer immer mehr junge Menschen in städtischen Parks beim Werfen von silbernen Kugeln zu beobachten sind. Warum also nicht curlen? Schwieriger als Boule ist es allemal, schon weil die verflixten Steine nicht geradeaus laufen, sondern eben "curlen". Sie drehen sich bei der Vorwärtsbewegung und beschreiben daher sanfte Kurven auf dem Eis. Was den Vorteil hat, dass gegnerische Steine umschifft werden können und den Nachteil, dass die Steuerung viel Erfahrung und Geschick erfordert. Ist der Stein erst mal im Gleiten, können sein Tempo und seine Bahn immer noch beeinflusst werden: dienten früher die Curlingbesen zur Säuberung des Eises, lenkt das putzige "Wischen" heute den Stein. Dabei geht es oft um Millimeter - einen anderen Stein aus dem Haus zu befördern und selbst auf dem Punkt liegen zu bleiben, ist hohe Kunst.

Die Entschleunigung im Curling widerspricht den heutigen Sehgewohnheiten. Mangelnde Rasanz und Action kann statt entspannend langweilig wirken. Die Entdeckung der Langsamkeit belohnt jedoch die Zuschauer. Anders als im Falle sportiver Zeitschinderei bleiben sie nicht außen vor und gucken hinterher, sondern haben die Chance mitzudenken und virtuell mitzuwischen. Wenn auch der Slogan vom "Schach auf dem Eis" ein wenig überzogen scheint, Curling besteht zum großen Teil aus Taktik. Die Strategie bestimmt grundsätzlich der "Skip", der Kapitän der Mannschaft. Demokratisch geht es aber dennoch zu, denn bei schwierigen Lagen wird gemeinsam beratschlagt. Zur Freude des fernsehenden Zuschauers, denn alle Spieler tragen Mikrophone, so dass die Debatten - falls das jeweilige Idiom es zulässt - sich gut verfolgen und nachvollziehen lassen. Die EM endet an diesem Samstag, doch dank Eurosport-TV darf im Februar anlässlich der Winterolympiade und im April bei der Weltmeisterschaft wieder mitgecurlt werden, frei nach dem Motto "Du bist der Skip."

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